Update vom Mai 2019
Beziehungsdenken als Politik- und Wirtschaftsphilosophie
Die Methode hinter der politischen Nutzung von Beziehungen wurde von Relational Research in Cambridge entwickelt und kürzlich in einem von der Cambridge University Press veröffentlichten Buch dargelegt.[1]
Der Fokus auf Beziehungen ist ein radikal anderer Weg politischen Denkens. In Europa und weltweit wurden politische, ökonomische und soziale Probleme generell im Bezug auf eine Polarität zwischen dem Individuum mit seinen Rechten und Freiheiten auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Kollektiv verstanden – der Gesellschaft und des Staates, die ihm Ordnungen und Pflichten auferlegen. Kapitalismus, Kommunismus und Faschismus sind alle so inszeniert worden. Dagegen ist die Idee, auf Beziehungskapital zu fokussieren, weder sozialistisch noch libertär. Sie gehört weder Rechts noch Links, weder Globalisten noch Nationalisten. Wo sich die Rechte auf Freiheit konzentriert und die Linke auf Gleichheit, erschließt Relationales Denken das Wesen und das Potenzial von Brüderlichkeit.[2]
Sie ist im Denken der Aufklärung das vernachlässigte Element, das am tiefsten im Herzen von Europas jüdisch-christlicher Tradition eingebettet ist. Brüderlichkeit im Sinne von kreativ und effektiv gestalteten Beziehungen auf institutioneller Ebene hat bereits die sozialen Neuerungen inspiriert, die Europa der Welt gebracht hat, demokratische Regierungssysteme, die ursprüngliche Konzeption der Menschenrechte, die Aktiengesellschaft und die Unterscheidung zwischen Gewohnheitsrecht und Gesetz eingeschlossen. Die Schwächung dieses Bandes in Europa hat eine Lücke hinterlassen, die Freiheit und Gleichheit allein als übergreifende politische Prinzipien nicht füllen können.
Im Grunde ist Beziehungsdenken einfach gesunder Menschenverstand. Es besagt, dass Beziehungen in derselben Weise gesund sein können, wie Körper und Geist gesund sein können. Es weist darauf hin, dass Fortschritt, Produktivität und Glück in großem Maße davon abhängen, dass Institutionen aufgebaut werden, die gute Beziehungen ermöglichen und fördern. Aus diesem Grund argumentiert es, dass die Qualität von Beziehungen in Europa von der Familie bis hinauf in die Regierung eine wesentliche, messbare Form von Kapital bildet, das Nachhaltigkeit und Fortschritt in jedem Bereich zugrunde liegt – finanziell, politisch, kulturell und in der Umwelt.
Relationales Denken bietet auch einen Weg, um Polaritäten zusammen zu bringen. Es bejaht das Individuum und das Kollektiv, Rechte und Pflichten, Freiheit und Verantwortung, Kooperation und Wettbewerb – unter der Voraussetzung, dass diese Ideale in realen Beziehungen ausgehandelt werden müssen, wobei die direkte und tiefe Interaktion, Fairness und Ausrichtung auf den anderen Schlüsseldynamiken sind. Auf diese Weise liefert es ein wichtiges Korrektiv zur Sprache der Rechte, die die Ansprüche des Einzelnen an den Rest der Gesellschaft ins Zentrum stellt. Es ist in der Tat möglich, aus dem Relationalen Denken einen Wertekanon abzuleiten (siehe Anhang), der sich vom Mainstream liberaler Ideen unterscheidet und der tief in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelt ist (und damit im Einklang mit dem Verständnis biblischer Lehre im Judaismus und im Christentum) und gleichzeitig offen für einen viel breiteren Wählerkreis.
An einem Punkt der Geschichte, wo viele Europäer den Kontakt zu dem Glauben verloren haben, der die Geburt der europäischen Kultur hervorgebracht hat, sollte der Nutzen einer politischen Idee, die sowohl religiöse als auch säkulare Sensibilität anspricht, nicht unterschätzt werden. Fast alle Definitionen einer guten Gesellschaft betonen Beziehungsqualitäten wie Vertrauen, Loyalität, Zuneigung, Ehrlichkeit, Großzügigkeit und Gegenseitigkeit – Qualitäten, die auch übereinstimmend nachhaltigem Wirtschaften und der effektiven Erbringung öffentlicher Dienstleistungen zugrunde liegen. Wenn dem so ist, kann ein politischer und ökonomischer Ansatz, der eine relationale Infrastruktur aufbaut statt sie zu schwächen, der Schlüssel für Europas Zukunft sein.
Beziehungswerte für Europa
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- Freiheit, Gleichheit, Vertrauen, Gerechtigkeit und Solidarität haben nur im Kontext von Beziehungen Bedeutung – mit anderen Menschen und mit Gott.
- Für jeden von uns sind Beziehungen die Grundlage von Identität, Lernen, Chancen, Leistung und Wohlergehen.
- Da die Qualität von Beziehungen sowohl Menschen als auch Institutionen stark beeinflusst, ist das Potenzial von Beziehungen eine primäre Quelle von Werten.
- Eine gute Gesellschaft verbindet ihre Mitglieder auf eine Weise, die angemessene Gegenseitigkeit, Transparenz, Verständnis, Fairness und eine gemeinsame Vision unterstützt.
- Alle Menschen sollten vor dem Gesetz gleich behandelt und ihr Wert als Person geachtet werden.
- In einer nachhaltigen Gesellschaft müssen die Rechte von Individuen, Gemeinschaften, Institutionen und Dritten ausbalanciert werden über die sozialen Beziehungsnetze, die auch zukünftige Generationen einschließen.
- Wo Beziehungen zwischen Individuen oder Völkern zerbrechen, haben Zurückhaltung und Mediation Vorrang vor Trennung oder Gewalt.
Aus: David John Lee, Paul Mills und Michael Schluter, Confederal Europe. Strong Nations Strong Union (Amersfoort: Sallux ECPM Foundation, 2017), S. 101-105.
Übersetzung: Karin Heepen
[1] John Ashcroft, Roy Childs, Alison Myers and Michael Schluter, The Relational Lens: Understanding, Managing and Measuring Stakeholder Relationships (Cambridge: Cambridge University Press, 2016).
[2] Vgl. Danny Kruger, On Fraternity: Politics Beyond Liberty and Equality (London: Institute for the Study of Civil Society, 2007).