CDU/CSU und SPD haben die Koalitionsverhandlungen aufgenommen. Das Sondierungspapier verspricht eine verschärfte Gangart der bisherigen Politik. Ein einfach „weiter so“ wird jedoch das Land nicht befrieden und verbietet sich im Blick auf die Nachhaltigkeit für zukünftige Generationen.
Eine Kurzanalyse zu Kernpunkten des Sondierungspapiers
1. Familienpolitik
Die zur Familienpolitik im Sondierungspapier getroffene Einleitung, dass Familien unsere Gesellschaft zusammenhalten, wird wie bisher durch eine Familienpolitik als Dienstleister der Wirtschaftspolitik konterkariert. Familien sollen mittels eines Rechts auf befristete Teilzeit in ihrem Anliegen unterstützt werden, mehr Zeit füreinander zu haben und die Partnerschaftlichkeit zu stärken. Einer minimalen Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderzuschlages stehen ansonsten Anreize zur Steigerung von Erwerbsarbeit der Eltern gegenüber, eine „bessere Beschäftigung von Frauen“ und „ein besonderes Augenmerk auf Unternehmen ohne Frauen in Führungspositionen“ mittels gesetzlicher Vorgaben und Sanktionen für Unternehmen. Mobilität soll als zentrale Grundlage für individuelle Freiheit und gesellschaftlichen Wohlstand, für wirtschaftliches Wachstum und für Arbeitsplätze favorisiert werden, ungeachtet ihrer zerstörerischen Wirkung auf den Zusammenhalt der Familien.
Dafür wird weiter in den Ausbau der Kinderbetreuung investiert, die Entlastung von Eltern bei den Gebühren bis hin zur Gebührenfreiheit verfolgt und ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter eingeführt. Und es sollen Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden. Kernpunkt bleibt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nicht die Stärkung von Familien und der elterlichen Erziehungsverantwortung.
Mit dem einseitigen Fokus auf Wirtschaftswachstum heute wurde die nachhaltige Sicherung des wirtschaftlichen Standards und Wohlstands durch die nächste Generation bereits grundständig gefährdet. Es wurden nicht nur zu wenige Kinder geboren, sondern diese mit defizitären Bindungserfahrungen erzogen durch zu frühe Fremd- und Kollektivbetreuung. Ein einseitiger Fokus auf Bildung statt Bindung wird die Zahl der Jugendlichen und jungen Erwachsenen weiter anwachsen lassen, die nicht oder nur bedingt ausbildungs- und leistungsfähig sind.
Ein Umsteuern in der Familienpolitik ist überfällig, damit Familien in ihrem Zusammenhalt und ihrem natürlichen Erziehungsauftrag gestärkt werden. Dafür bedarf es der Rückübertragung der Erziehungsverantwortung an die Eltern und eines Erziehungsgehaltes, das sie befähigt, ihre Sozialverantwortung wahrzunehmen. Die Erziehung der Kinder, Versorgung der Alten und Hilfe für in Notlagen geratene Angehörige sind die natürlichen Pflichten von Familiensystemen.
Kinderrechte im Grundgesetz hebeln diese Erziehungsverantwortung absehbar zusätzlich aus. Die Grundrechte im Grundgesetz gelten für Kinder wie für alle Menschen. Die in Artikel 6 GG verankerte natürliche Entscheidungsbefugnis von Eltern für ihre Kinder wird mit zusätzlichen Kinderrechten in Frage gestellt. Und das Zugriffsrecht des Staates auf die Kinder wird damit dem grundgesetzlich festgeschriebenen, natürlichen Erziehungsrecht der Eltern gleichgestellt. Wenn Kinderrechte dem elterlichen Erziehungsrecht gegenübergestellt werden, ebnet das zusammen mit der angestrebten Gebührenfreiheit u. a. auch der Kita-Pflicht gegen den Willen der Eltern den Weg.
Eltern haben ein natürliches Interesse, die Rechte ihrer Kinder zu schützen und zu verteidigen und müssen nach dem Subsidiaritätsprinzip mit diesem Recht vor dem Staat autorisiert bleiben. Die staatliche Gewalt wacht bereits jetzt nach Artikel 6 GG über die Betätigung der Eltern und greift bei deren Versagen ein.
2. Sozialpolitik
In dem Maße, wie die Regierungskoalition die Familien weiter von ihrer Erziehungs- und Sozialverantwortung entbinden will, soll der Sozialstaat weiter ausgebaut werden. Grundrente, die Absicherung der gesetzlichen Rente auf heutigem Niveau von 48 % bis zum Jahr 2025, Parität bei den Beiträgen zur Gesetzlichen Krankenversicherung und 8 000 neue Fachkraftstellen sind Eckpunkte des Programms. Auf das Einkommen der Kinder von pflegebedürftigen Eltern soll künftig erst ab einem Einkommen in Höhe von 100.000 Euro im Jahr zurückgegriffen werden. Dennoch sollen die Sozialabgaben unter 40 % stabilisiert werden.
Für den nicht mehr funktionierenden Generationenvertrag, Pflegenotstand, überfüllte Kindereinrichtungen in den Städten und ausufernde Kosten im Gesundheitssystem enthalten die Sonderungsergebnisse kosmetische Maßnahmen. An keiner Stelle wird das Sozialsystem an sich in Frage gestellt und ob „Vater Staat“ weiter die Versorgerrolle für den Einzelnen anstelle der Familie übernehmen kann. Mit der Kollektivierung der Sozialverantwortung wurde die Eigenverantwortung des Einzelnen zunehmend durch Anspruchsdenken ersetzt. Die anonymen staatlichen Verteilungssysteme können jedoch den individuellen Bedarfen nie völlig gerecht werden und haben einen andauernden Ruf nach sozialer Gerechtigkeit generiert, den das System nicht erfüllen kann.
Die auf diese Weise überfrachteten Sozialsysteme können absehbar nur noch mit hohen steuerlichen Belastungen und Sozialabgaben der Wirtschaft am Leben erhalten werden, solange die Wirtschaft boomt. Das ist Fahren auf Sicht statt einer vorausschauenden Politik, die das Leben der nächsten Generation im Blick hat. Mit den Rentenansprüchen wird Geld verplant, das unseren Kindern und Enkeln fehlen wird. Die mittlere Generation hat nicht nur zu wenige Kinder geboren und großgezogen, sondern überfrachtet diese dezimierte Generation zusätzlich mit Rentenansprüchen, die sie nicht mehr erfüllen kann. Die westlichen Gesellschaften ernten hier die Früchte eines einseitigen Individualismus, der Selbstverwirklichung, Erfolg und Effizienz des Einzelnen auf Kosten des Gemeinwohls und zukünftiger Generationen überzogen hat. Ein von der Regierungskoalition geplanter „Verlässlicher Generationenvertrag“ muss das Anspruchsdenken des Einzelnen auf den Prüfstand stellen und eine Balance zwischen individuellem Recht und Gemeinwohl auch für die nächste Generation herstellen.
3. Wirtschaft
Es ist von einer Renaissance der sozialen Marktwirtschaft und einer fairen Verteilung des erwirtschafteten Wohlstandes die Rede, mit dem Ziel, die Wachstumskräfte im Kontext der Globalisierung zu stärken. Dabei werden Wachstum und Wohlstand gleichgesetzt.
Der Kern der sozialen Marktwirtschaft war mit der Sozialverantwortung der Unternehmen für ihre Mitarbeiter und das Gemeinwohl verbunden. Daraus wurde über Jahrzehnte eine scheinsoziale Staatswirtschaft mit staatlichem Umverteilungsprogramm gemacht, die einem neuen Sozialismus gefährlich nahe ist. Die Regulierungsmaßnahmen des Staates haben weder die zunehmende Konzentration wirtschaftlicher Macht noch die Steuerflucht von Konzernen verhindert, aber den Mittelstand immer mehr belastet und abgewürgt, der in entscheidendem Maße die Wertschöpfung der Gesellschaft erbringt. Die mit den Sondierungsergebnissen in Aussicht gestellte weitere Umverteilung der erwirtschafteten Mittel durch den Staat setzt diesen Trend fort und belastet Unternehmen (und öffentliche Haushalte) wiederum mit höheren Kosten.
Angesichts der aktuellen Konjunktur mag die deutsche Wirtschaft diese Belastungen verkraften. Längerfristig wird diese Umverteilung an ihre Grenzen stoßen, wenn die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft erhalten werden soll, die die Voraussetzung für die Finanzierung des Sozialstaates ist. Wenn die Sozialabgaben unter 40% bleiben sollen, müssen die gleichzeitig vorgesehenen Ausgaben der Sozial- und Rentenpolitik absehbar zurückgeschraubt werden.
An keinem Punkt wird die Frage gestellt, ob und unter welchen Bedingungen Wachstum der Wirtschaft nicht nur materiellen Wohlstand, sondern Wohlergehen der Menschen und Gemeinwohl hervorbringt. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos wurde ein wachsender Widerspruch zwischen ökonomischen Erfolgen und gesellschaftlichem Nutzen in der westlichen Welt festgestellt und die Frage gestellt, was das ganze Wachstum bringt. Zunehmender Wohlstand allein macht das Leben vieler Menschen nicht besser. Der von Bündnis C und der European Christian Political Movement (ECPM) vertretene Ansatz eines beziehungsorientierten Wirtschaftsplanes zielt auf eine Balance von guten Beziehungen aller Beteiligten in einem Wirtschaftsmodell, das den Menschen nicht nur als Humankapital sieht, sondern dem Einzelnen und dem Gemeinwohl dient (vgl. Artikel „Relational Thinking“)
Dieser Wirtschaftsplan stellt in seinem Ansatz auch das auf Schuldenfinanzierung basierende Wirtschafts- und Finanzsystem in Frage. Eine auf Schulden aufgebaute Gesellschaft tendiert zu Anonymität und sozialer Entfremdung und ist inflationsgefährdet, verbunden mit zufälliger und ungerechter Umverteilung des Wohlstandes. Die Wirtschaftspolitik darf deshalb keine weiteren Anreize oder Steuervorteile für Fremdfinanzierung von Unternehmen geben.
4. Finanzen
Die Verschuldung der Staatshaushalte Europas hat mit der Wirtschafts- und Finanzkrise einen historischen Höchststand erreicht, des es vorher nur in Kriegszeiten gab. In Friedenszeiten wurden Schulden getilgt und in Konjunkturzeiten Rücklagen gebildet.
Union und SPD wollen hingegen die finanziellen Spielräume, die aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage bestehen, für politische Gestaltung nutzen. Lediglich über das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts ohne neue Schulden besteht Einigkeit.
Die angehäufte Schuldenlast ist von den nächsten Generationen weder zu bewältigen, noch werden diese auf Rücklagen oder auch nur ausgewogene Finanzierungsmodelle zurückgreifen können. Auf kommunaler Ebene stemmen bereits jetzt strukturschwache Regionen selbst ihre Pflichtausgaben (u. a. Arbeitslosengeld, Hartz IV, Kitas, Schulen) teilweise nicht mehr ohne neue Kredite.
Dem Abbau der Staatsverschuldung und der Minderung des Drucks auf die öffentlichen Haushalte muss absolute Priorität eingeräumt werden. Demgegenüber müssen Maßnahmen zum Klimaschutz und Energiewende als nachrangig eingestuft werden, weil deren Wirkung auf das zukünftige Klima zweifelhaft ist, die Auswirkungen der Verschuldung auf zukünftige Generationen jedoch übermächtig.
5. Rechtsstaat und Demokratie
Programme gegen Rechtsextremismus, Linksextremismus, Antisemitismus, Islamismus und Salafismus haben bisher ihre Protagonisten eher gestärkt, als dass sie die Spaltung der Gesellschaft durch rivalisierende Ideologien und die von ihnen beförderten Extreme überwunden haben. Wir sehen im christlichen Glauben die Basis für die Überwindung der Gräben und ein gemeinsames Wertefundament für unsere Gesellschaft.
Eine „Agenda für Kultur und Zukunft“, die die Kulturförderung des Bundes an Themen wie Integration, Inklusion, Demografie, Digitalisierung, Gleichstellung, Populismus, Zukunft von Arbeit und Kommunikation bindet, konterkariert die Freiheit der Kunst und Kultur und befördert politisch korrekte Propagandakunst.
6. Migration
Neben den vorgesehenen Maßnahmen zur Steuerung der Migrationsbewegungen wird weiter vor allem über Integration in die Gesellschaft bei dauerhafter Bleibeperspektive gesprochen, ohne diese Bleibeperspektive dahingehend zu konkretisieren, dass jeder Flüchtlingsstatus (nicht nur subsidiärer Schutz) nach geltendem Asylrecht begrenzt ist, so lange die Gefahr im eigenen Land besteht. Nötig ist eine Integration, die mit einer umfassenden beruflichen und freiheitsrechtlichen Bildung der Vorbereitung der Flüchtlinge für die Rückkehr in ihr Heimatland dient, um dort Frieden, bessere Lebensbedingungen und Rechtsstaatlichkeit zu befördern. Diese Kombination dient am nachhaltigsten der Bekämpfung von Fluchtursachen.
Ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz darf sich nicht allein an den volkswirtschaftlichen Interessen Deutschlands orientieren und dafür qualifizierte Arbeitskräfte aus wirtschaftlich schwächeren Ländern ins Land ziehen. Deutschland kann bestenfalls junge Menschen aus Ländern mit wenig Berufschancen in Ausbildung und Studium bringen und damit zu Fachkräften machen – für ihr Heimatland oder ihr Gastland.
Europäische Beschlüsse zur Verteilung von Flüchtlingen hebeln die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für Migration aus. Die EU ist gefordert, die nationalen Toleranzgrenzen für Migration zu akzeptieren. Eine Zwangssolidarisierung der EU-Staaten für die Aufnahme von Flüchtlingen muss scheitern.
7. Europapolitik
Es muss verwundern, diesen Abschnitt als ersten im Sondierungspapier für die deutsche Politik der nächsten vier Jahre zu finden. Natürlich kann niemand die Abhängigkeit der Nationen Europas voneinander leugnen, die über die letzten 70 Jahre gewachsen sind, und das Eingebunden-Sein Deutschlands in die zahlreichen Verflechtungen Europas und der EU. Aber das erste Interesse der Bevölkerung gilt sicher nicht der Europapolitik, auch nicht angesichts der Europawahl im kommenden Jahr, sondern der weiteren Politik der neuen Bundesregierung für Deutschland.
Wie kann die EU nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten entwickeln und soziale Ungleichheiten in wirtschaftlich schwächeren Ländern ausgleichen? Ein höherer EU-Haushalt für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz bewirkt eine weitere Umverteilung innerhalb der EU, die die Nationalstaaten immer weniger bereit sind mitzutragen, wie der Brexit zeigt, und die die spezifischen Gegebenheiten in schwächeren Ländern nicht reformiert hat. Nicht nur lokale Herausforderungen können nur lokal gelöst werden, wie im Sondierungspapier bemerkt wird. Auch für die Sozialpolitik der EU-Staaten muss das Prinzip der Subsidiarität gestärkt werden, um einer weiteren Zentralisierung und Anonymisierung der Sozialsysteme entgegenzuwirken und die zwischenmenschliche Sozialverantwortung wiederzubeleben. Ohne grundständige Reformen werden die Kosten für die Sozial- und Gesundheitssysteme bis 2050 in den EU-Staaten im Durchschnitt auf geschätzte 60 % des Bruttoinlandsprodukts steigen.
Das im Sondierungspapier bezeugte solidarische Gesellschaftsmodell kann Europa nur dann einen und stark machen, wenn diese Solidarität wieder aus der christlichen Definition heraus verstanden und gelebt wird: Solidarität entsteht in einer willentlichen Beziehung der Beteiligten, im freiwilligen Verzicht auf eigene Ansprüche zugunsten anderer Beteiligter und der Gemeinschaft und dadurch gelebter Sorge füreinander. Solidarität wird zerstört durch von der EU erzwungene politische Einheit, durch finanzpolitische Vereinheitlichung und durch Zwangssolidarisierung der Sozialsysteme und der Nationalstaaten. Die angestrebte Einheit der EU wird dadurch nicht gefestigt, sondern gesprengt und man riskiert weitere Austritte.
Die grundlegende Frage muss im Blick auf Europa lauten: Was sind die gemeinsamen Werte der EU, die sie nach innen einen könnten? Und was sind die gemeinsamen Interessen, die sie nach außen durchsetzen will oder soll? Die Antworten darauf dürften mittlerweile höchst unterschiedlich ausfallen und können deshalb weder vorausgesetzt werden, noch liefern sie die nötige gemeinsame Basis für die EU. Es ist das Gebot der Stunde, diese Werte und Interessen neu zu definieren, woraus und wofür Europa leben will. Frieden, Freiheit und Wohlstand können auch in Zukunft nur Frucht davon sein.
Karin Heepen