Unter diesem Slogan versammeln sich Bürger zum Gegenangriff auf rechte Demonstranten in Chemnitz und wollen damit das Image der Stadt und die Demokratie retten. Ein demokratischer Staat lebt aber von Debatten und dem gemeinsamen Ringen um die Wahrheit, die Mehrheiten genauso wenig wie Minderheiten garantieren.
Bisher waren bei Gegenaktionen gegen Rechts Sprüche über die bunte Vielfalt auf der Tagesordnung. Damit wurde auf der Sachebene ein unkritischer Pluralismus propagiert, von dem natürlich die ausgenommen sind, gegen die man protestiert. Im „Wir sind mehr“-Slogan wurde nun jeglicher Sachbezug getilgt. Was die Verfechter damit ausdrücken wollen, scheint offensichtlich: Wir sind mehr, die auf der richtigen Seite stehen. Wir sind mehr und wir sind im Recht. Wir sind mehr und verdrängen euch. Wir sind mehr, und deshalb werden wir siegen.
Die wichtigere Frage, die gestellt werden muss, ist aber: Was wollen die Verfechter der beschworenen Mehrheit damit für unsere Gesellschaft erreichen? Dass man mit Demonstrationen und Konzerten gegen Rechts nicht die Gesinnung derer verändert, gegen die man antritt, muss jedem klar sein. Scheinbar ist das aber auch gar nicht gewollt, sonst würde man tauglichere Mittel dafür suchen, als die Anderen als Abschaum des Landes niederzubrüllen, und das mit der Hilfe linksextremistischer Rock-Gruppen, die selbst zu Gewalt aufrufen. Wenn eine Demokratie von Debatten auf der Sachebene lebt, werden die hingegen gerade nicht geführt. Mit „Wir sind mehr“-Rufen sollen die Anderen einfach nur bekämpft werden. Und dann?
Das Problem ist, dass die Anderen damit weder verschwinden noch ihre Sicht der Dinge ändern. Mit „Wir sind Mehr“-Sprüchen wird nicht im Mindesten die Polarisierung der Gesellschaft versöhnt, sondern zielgerichtet auf immer gefährlichere Weise befeuert. Wem nützt die diktatorische Forderung, „Gesicht zu zeigen“? Wer will damit wessen Gesinnung kontrollieren? Der Oktoberklub sang zu DDR-Zeiten: „Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst. Wie haben ein Recht darauf, dich zu erkennen. Auch nickende Masken nützen uns nichts. Ich will beim richtigen Namen dich nennen. Und darum zeig mir dein wahres Gesicht!“
In der zunehmenden Dynamik der ideologischen Kämpfe wird erneut die Gesinnungsdiktatur einer Mehrheit etabliert. Nicht die Rechten gefährden hier und heute die Demokratie, da mit ihnen sowieso keiner regieren will und sie deshalb absehbar gar keine Chance haben, das System umzustürzen. Sondern die Verweigerung politischer Debatten führt zu einem parlamentarischen Absolutismus mit der Herrschaft der Mehrheit über Minderheiten. Genau damit provoziert man jedoch, dass diese Minderheiten sich wehren und immer stärker werden. Diese Dynamik sehen wir in ganz Europa.
Völlig am Problem vorbei aber symptomatisch dafür ist es, sich nun vor allem um das Image und das „Gesicht“ von Chemnitz Sorgen zu machen, wie aus Sachsen immer wieder zu hören ist. Angriffe auf Ausländer und andersherum auf Deutsche gibt es leider in ganz Deutschland, da ist Chemnitz keine Ausnahme. Wem hilft es weiter, sich gegenseitig zu beweisen, wer die weißere oder buntere Weste hat, und zu „zeigen, dass in unserer Stadt die Mehrheit demokratisch und offen denkt.“, wie im Statement „Chemnitz ist weder Grau noch braun“ beteuert wird?
Wenn die bürgerliche Mitte aufwachen soll, darf es nicht länger nur um das eine richtige Denken gehen, sondern darum, im sachlichen Diskurs brauchbare politische Lösungen zu finden.
In einem Rechtsstaat werden Straftaten und nicht Gesinnungen verfolgt. Wer meint, dass böse Gesinnungen ausgerottet werden müssen, weil sie die Quelle von Straftaten sind, muss damit bei sich selbst anfangen, statt Chemnitz und Andere des Übels zu bezichtigen. Und wer „Blindheit in Bildung“ verwandeln will, muss sich zuerst den Balken aus dem eigenen Auge entfernen lassen (Lk 6,39-42), wo wir einem illusorischen Menschen- und Weltbild des Humanismus verhaftet sind. Die Wahrheit ist weder rechts noch links, sondern Jesus Christus. Nicht ideologische Straßenkämpfe werden „Gegeneinander in Miteinander verwandeln“, sondern Seine Botschaft der Versöhnung mit Gott und Menschen, egal welcher Couleur. Diese Botschaft hat nicht nur Ostdeutschland nötig.
09.09.2018
Karin Heepen
Zitate aus www.wedergraunochbraun.de