Die Türkei blockiert den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands. Im Schatten des Ukraine-Krieges begann Erdogan bereits einen neuen Angriffskrieg gegen Stellungen der PKK im Nordirak. Gleichzeitig startete die irakische Armee Angriffe auf die Jesiden in Sengal (Sinjar). Bündnis C fordert eine Reaktion der Bundesregierung gegenüber der Türkei analog zum Überfall Russlands auf die Ukraine. Die Expansionspolitik Erdogans gefährdet nicht nur den Nahen Osten, sondern seine Erpressungsversuche gegenüber der NATO auch Europa.

Seit dem 14. April hat die Türkei eine Großoffensive gegen die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) gestartet in den Gebieten von Avaşîn, Metîna und Zap im Nordirak. Die PDK (Demokratische Partei Kurdistans, die Regierungspartei der Autonomen Region Kurdistan im Irak), unterstützt die Bombardements von ihren Militärbasen aus im Süden der Berge Kurdistans. Wenige Tage nach Beginn der türkischen Invasion begannen irakische Truppen der Zentralregierung aus Bagdad einen umfassenden Angriff auf das Gebiet der Jesiden in Şengal im Nordirak. Den letzten Pogrom erlebten die Jesiden 2014 beim Überfall des IS auf Sengal. Tausende wurden ermordet, Hunderttausende vertrieben, unzählige werden bis heute vermisst. Nun sind erneut Jesiden aus Şengal auf der Flucht nach Kurdistan – diesmal vor den Angriffen der irakischen Armee gegen ihre Selbstverteidigungsstrukturen, die von Überlebenden des IS-Genozids geschaffen wurden. Şengal fordert regionale Autonomie innerhalb des irakischen Föderalstaats ähnlich der Region Kurdistan.

Die Türkei greift seit Jahren immer wieder syrisches und irakisches Territorium an. Als Vorwand dienen PKK-Stellungen in den Grenzregionen. Die irakische Offensive auf Şengal zeitgleich mit der türkischen Invasion in Zap und Avaşîn weist auf ein koordiniertes Vorgehen mit der Führung in Ankara hin. Der Autonomierat Şengals äußerte die Vermutung, dass die Türkei dem Irak ein Ultimatum gestellt haben könnte, die jesidischen Strukturen der Selbstverwaltung zu zerschlagen, bevor er es tut. Sowohl die Zentralregierung in Bagdad als auch die kurdische Regionalregierung in Erbil arbeiten mit der türkischen Regierung darauf hin, das „Sinjar-Abkommen“ umzusetzen. Es sieht die Auflösung der Autonomieverwaltung in Sengal und die Entwaffnung ihrer Selbstverteidigungseinheiten [YBŞ] vor, die die Türkei als Stellvertreter der PKK ansieht. Damit wären die Jesiden wieder so wehrlos wie bei den Massakern durch den IS 2014, denen die Truppen der Regierung in Erbil die Bevölkerung überließ. Gerettet wurden die Jesiden zum Teil durch PKK-Kämpfer und die Syrisch-Demokratischen Streitkräfte (YPG). Daraufhin begann der Aufbau der YBŞ und der lokalen Rätestrukturen, die Erdogan als kurdischen „Terrorkorridor“ bezeichnet und mit wiederholten völkerrechtswidrigen Angriffen auf Şengal verhindern will.

Unter demselben Vorwand der Selbstverteidigung gegen Terroristen wurden von der Türkei in den letzten Jahren Gebiete in Nordsyrien besetzt und islamistisch gesäubert. Ankara hat sich in Nordsyrien eine Söldnerarmee aus überwiegend radikal- islamistischen Rebellenmilizen aufgebaut, denen Amnesty International nach der letzten Offensive 2019 schwerwiegende Kriegsverbrechen bescheinigte. Das Verteidigungsministerium der USA sieht mit den grenzüberschreitenden Angriffen der Türkei neben der Gefährdung der Zivilbevölkerung zugleich eine Behinderung der laufenden Operationen gegen den Islamischen Staat (IS) in Syrien und im Irak (Operation Inherent Resolve). Die Partnertruppen der Syrisch-Demokratischen Streitkräfte (SDF) und der Volksverteidigungseinheiten (YPG) müssen sich statt auf den IS auf den Schutz der kurdischen Bevölkerung konzentrieren.

Erdogan weitet damit seinen Einfluss im Nahen Osten aus, ohne dass die NATO gegen seine Angriffskriege ernsthaft interveniert hat. Weder 2018 beim Überfall auf Afrin, noch 2019 beim Einmarsch türkischer Truppen in den Norden Rojavas und der Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus den Regionen ist die NATO eingeschritten. Im Ukraine-Krieg stellt sich Erdogan als Friedensstifter dar, indem er seine Beziehungen zu Russland enger knüpft. Als einziger NATO-Partner boykottiert Ankara die westlichen Sanktionen gegen Russland und baut seine Wirtschaftsbeziehungen mit Moskau seit Kriegsbeginn aus. Im Blick auf die Präsidentschaftswahl 2023 will Erdogan außenpolitischen Erfolg demonstrieren, um innenpolitisch von Inflation und wirtschaftlichem Niedergang der Türkei abzulenken.

Nun blockiert die Türkei den beabsichtigten NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands mit der Beschuldigung, die beiden Länder seien Brutstätten für terroristische Organisationen. Erdogan fordert, dass westliche Staaten gegen Verbündete der PKK vorgehen, obwohl es in jüngerer Zeit keinerlei Anschläge von deren Seite gab. Im Gegenteil haben das Gericht der Europäischen Union am 15. November 2018 und verschiedene Urteile des Höchsten Gerichts in Belgien festgestellt, dass die PKK keine Terrororganisation, sondern Teil eines internen Konflikts in der Türkei ist, und dass die Aufnahme der PKK in die EU-Terrorliste 2014-2017 rechtswidrig war. Die türkische Führung unterstellt den EU-Staaten außerdem, Anhänger der Gülen-Bewegung zu decken und deren Auslieferung zu verweigern. Für den Putschversuch 2016 machte Erdogan ohne jede Beweise den Prediger Fetulah Gülen verantwortlich und betrieb daraufhin wiederkehrende Säuberungsaktionen gegen politische Gegner. Seitdem ersuchen türkische Staatsbürger in Deutschland um Asyl.

Erdogan fordert zudem die Aufhebung der Sanktionen für Rüstungsimporte aus Europa, die mehrere westliche Staaten als Reaktion auf die militärischen Interventionen Ankaras in Syrien verhängt haben, unter anderem Schweden. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat wiederholt festgestellt, dass die türkischen Angriffe auf Syrien und den Irak völkerrechtswidrig sind. Weder von Nordost-Syrien noch von Sengal oder Flüchtlingslagern im Nordirak geht eine Sicherheitsbedrohung für die Türkei aus. Als 2018 türkische Truppen mit deutschen Panzern in syrisches Gebiet eindrangen, setzte die deutsche Regierung dennoch den Rüstungsexporten an die Türkei keinen Stopp. Die Bundesregierung übernimmt auch bei den jüngsten Angriffen im Irak unkritisch Pressemitteilungen des türkischen Verteidigungsministeriums, das sich wie bei früheren Militäreinsätzen im Nordirak und Nordsyrien auf das Selbstverteidigungsrecht gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen beruft. Die Bundesregierung beteuert die Souveränität des Irak und fordert die Türkei zur Achtung des humanitären Völkerrechts auf, lehnt jedoch jegliche Konsequenzen gegenüber Ankara ab. Im Gegenteil gaben sowohl Bundeskanzler Scholz als auch Außenministerin Baerbock bei ihren jüngsten Treffen Erdogan Rückhalt und bekräftigten die türkisch-deutsche Partnerschaft.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete auch angesichts des Vetos zur NATO-Norderweiterung die Türkei als einen geschätzten Bündnispartner, und alle Sicherheitsbedenken müssten angegangen werden. Spätestens dieses Veto der Türkei und seine Verbindungen mit Russland machen aber offensichtlich, dass die NATO und Europa mit der Türkei keinen Verbündeten mehr haben, sondern einen Feind in den eigenen Reihen. Die Kontroversen um Rechtsstaatlichkeit, die Erpressungsversuche mit dem Flüchtlingsdeal seit 2016 und die zunehmende Aggressionspolitik wurden in den vergangenen Jahren immer wieder beschwichtigt, aber nie angegangen oder gelöst.

Bündnis C fordert eine Reaktion der Bundesregierung gegenüber der Türkei auf die erneuten Angriffe im Irak analog zum Überfall Russlands auf die Ukraine. Politische und ökonomische Interessen haben Deutschland und Europa gegenüber Russland handlungsunfähig gemacht und dürfen jetzt nicht länger die Beschwichtigungspolitik gegenüber der Türkei rechtfertigen. Im Gegensatz zu Russland ist die Türkei als NATO-Partner zudem der Wertegemeinschaft des Nordatlantikvertrages verpflichtet. Die NATO ist nicht nur Verteidigungsbündnis, sondern bekennt sich zu Frieden, Demokratie, Freiheit und der Herrschaft des Rechts. Mit der Verletzung der NATO-Grundsätze ist Erdogan kein zuverlässiger Partner, sondern eine Gefahr für das Verteidigungsbündnis. Aus der Vorgeschichte des Krieges Russlands gegen die Ukraine sollten die europäischen Regierungen gelernt haben, dass man Autokraten wie Putin und Erdogan nicht stoppt, indem man sie bei ihren Aggressionen gegen Nachbarländer gewähren lässt. Der aktuelle Erpressungsversuch Erdogans ist das Ergebnis vorausgegangener Zugeständnisse des Westens an die Türkei gegen die Prinzipien der NATO. Ein Eingehen auf seine jetzigen Forderungen würde Erdogans Machtbereich auf Europa ausweiten und die Kurden weit über seine Grenzen hinaus zu legitimen Opfern seiner Politik machen. Die NATO darf sich gerade in der jetzigen Situation keinem Erpressungsversuch beugen und damit ihre Prinzipien weiter aushöhlen, wenn sie ihre Geschlossenheit wahren will. Angesichts der erneuten Angriffe auf den Irak muss im Gegenteil die mindeste Konsequenz seitens der deutschen Regierung der sofortige Stopp sämtlicher Rüstungsexporte an die Türkei sein, damit Nachbarländer nicht weiter mit deutschen Waffen attackiert werden.