Der neue EU-Migrationsplan versucht einen Ausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten in der Migrationspolitik und schlägt einen neuen Solidaritätsmechanismus vor. In einem Live-Webinar der ECPM diskutierten dazu Joel Voordewind, Paralamentsabgeordneter für die Christen Unie- (Niederlande), Ladislav Ilčić, Präsident der Hrast-Partei (Kroatien) und Karin Heepen, Vorsitzende Bündnis C (Deutschland).
Hier können Sie die Diskussion nachverfolgen https://www.facebook.com/560822223989381/videos/831792797360434
Hier sind die Antworten von Karin Heepen wiedergegeben zu den Fragen:
- Ist die flexible Solidarität ein negativer Anreiz für Länder, Flüchtlinge aufzunehmen, wenn sie auch nur Geld geben oder operativ helfen können?
Aus unserem jüdisch-christlichen Hintergrund heraus sind wir aufgerufen, unser Brot mit den Hungrigen zu teilen und die Obdachlosen ins Haus zu bringen; wenn wir jemanden in Not sehen, sollen wir ihm helfen und uns nicht unseren Brüdern und Schwestern entziehen. Dies wurde kürzlich auch von Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika „Fratelli tutti“ gefordert. Aber natürlich kann die Kirche nicht über die Politik herrschen.
Als ECPM verfolgen wir ein beziehungsorientiertes Konzept für die Gesellschaft, das auf dem Liebesgebot Jesu basiert. In diesem Rahmen müssen wir auch nach den Beziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten in der EU fragen.
Migration ist in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Es muss daher grundsätzlich jedem Mitgliedsstaat überlassen bleiben, ob und wie viele Flüchtlinge er aufnimmt. Um die Frage nach negativen oder positiven Anreizen für die Aufnahme zu beantworten, müssen wir zuerst in die Gesellschaft hineinschauen, welche Auswirkungen die Zuwanderung von Fremden hat und wie Integration gelingen kann.
Wir haben in Westeuropa mittlerweile gelernt, dass es nicht reicht, Zuwanderer und Gastarbeiter in Ausbildung und Arbeit zu bringen. Grundsätzlich begegnen uns drei große Barrieren, die Flüchtlinge und Zuwanderer im Gastland zu überwinden haben: Sprache, Kultur und Religion. Sprache, Akzeptanz unserer Kultur und Toleranz anderer Religionen sind entscheidende Voraussetzungen, um sich als Flüchtling oder Zuwanderer in die Gesellschaft zu integrieren.
Um diese Barrieren zu überwinden und Teil der neuen Gesellschaft zu werden, brauchen Immigranten Beziehungen zu Einheimischen. Weder die Sprache noch die Kulturunterschiede lernt man hinreichend in staatlich bereitgestellten Sprach- und Integrationskursen. Beides braucht den Kontakt zu Einheimischen. Entstehen diese Beziehungen nicht, bleiben die Immigranten fremd und werden nicht Teil der Gesellschaft. Noch schwieriger ist oft, die Grenze der Religionen aufzuweichen. Alle drei Barrieren führen häufig dazu, dass Immigranten unter sich bleiben und Parallelgesellschaften bilden.
Die Probleme dieser Parallelgesellschaften sehen wir zum Beispiel in Schweden und Frankreichs Vorstädten, und wir haben sie auch in Deutschland in vielen Großstädten. Das sind wenig motivierende Beispiele für einige Länder in Osteuropa, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Hinzu kommen begrenztere Ressourcen und Sozialstandards dieser Länder, die mit Westeuropa nicht vergleichbar sind und auch nicht einfach angepasst werden können, weil sie von der Wirtschaftskraft abhängen.
Ein beziehungsorientierter Ansatz für die Gestaltung unserer Gesellschaft kann uns auch für die Migrationspolitik praktikable Leitlinien geben. Die Fähigkeit einer Gesellschaft, Einwanderer zu integrieren, bemisst sich daran, inwieweit die lokale Bevölkerung Beziehungen zu Migranten eingeht. Politiker können dies fördern, aber nicht fordern oder die Einheimischen dazu zwingen. Für die Aufnahme von Flüchtlingen und Zuwanderern muss die Politik eines Landes berücksichtigen, wie die Bereitschaft der Bevölkerung ist, Beziehungen zu Flüchtlingen und Zuwanderern zu knüpfen und sie so in die Gesellschaft aufzunehmen, und wie Institutionen diese Bereitschaft unterstützen können. Die Kirchen können eine vorbildhafte Rolle spielen und Migranten Räume öffnen, wo sie Kontakte und Beziehungen zu Einheimischen finden.
Hingegen ist es wenig hilfreich, wenn die Kirchen oder gar die Politik Jesu Liebesgebot als Begründung zitieren für eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen. Papst Franziskus schreibt in seiner neuen Enzyklika „Fratelli tutti“: Europa besitzt, „unterstützt durch sein großes kulturelles und religiöses Erbe, die Mittel […], um die Zentralität der Person zu verteidigen und um das rechte Gleichgewicht zu finden in seiner zweifachen moralischen Pflicht, einerseits die Rechte der eigenen Bürger zu schützen und andererseits die Betreuung und die Aufnahme der Migranten zu garantieren.“[1]
Genau diese Spannung zwischen Einheimischen und Fremden müssen die Regierungen austarieren. Moralischer Druck wird dabei aber weder die Gesinnung von Regierungen, noch die Herzenshaltung von Menschen verändern. Liebe wird entweder freiwillig gegeben, oder es ist Nötigung. Eine Zwangssolidarisierung der Gesellschaft wird scheitern. Und kein Flüchtling möchte in ein Land, das ihn gezwungenermaßen aufnehmen muss.
Deshalb meine ich, dass nach den Jahren verhärteter Positionen um Verteilungsquoten die Europäische Kommission mit den Optionen flexibler Solidarität einen gangbaren Weg vorschlägt, um die Herausforderungen durch Migration in Europa gemeinsam zu bewältigen. Ich würde die Frage lieber umgekehrt stellen: Was können positive Anreize für Länder sein, Flüchtlinge aufzunehmen? Die freiwillige Entscheidung dafür ist nach meiner Einschätzung ein wichtiger Faktor.
2. Was halten Sie von der Migrationssteuerung und den Prozessen, die in der neuen Politik beschrieben werden (Überprüfungen, das neue Kontrollorgan, Rückkehrpolitik usw.)?
Ich denke, die Überprüfungen und Kontrollen sind notwendig, um Asylverfahren einen geordneten, zügigen Ablauf zu geben und irreguläre Migration zu reduzieren mit ihren menschlichen Leiden und ökonomischen Kosten. Meine größten Zweifel beziehen sich auf die Rückkehr-Politik, weil wir wissen, wie schwierig Abschiebungen sind. Die kann man mit Asylverfahren an den Außengrenzen möglicherweise effizienter organisieren. Dennoch werden Asylbewerber, die alles zurückgelassen haben und über das Mittelmeer gekommen sind, nicht freiwillig zurückgehen. In Deutschland versuchen viele, vor Abschiebungen zu fliehen und sich zu verstecken, werden von NGOs gewarnt und vor der Polizei geschützt, wehren sich bei Abholung oder im Flugzeug, … Das ist verständlich, und in der Tat sind Abschiebungen inhumane Akte. Deshalb muss man durch klare Regelungen kommunizieren, was Asylgründe sind und dass Einwanderung nach Europa aus wirtschaftlichen Gründen nicht über Asylverfahren möglich ist.
Ethisch nicht verantwortbar finde ich, Einwanderung nach dem Vorbild der USA, Kanadas und Australiens zu planen, indem man qualifizierte und talentierte Arbeitskräfte aus Drittländern anwirbt. Damit werden gezielt teuer ausgebildete Fachkräfte aus ärmeren Ländern abgeworben. Wir wissen, was für Auswirkungen die EU-Freizügigkeit auf Länder Osteuropas hat mit zerrissenen Familien, Älteren und Waisen, die zurückgelassen werden, und verlassenen Landstrichen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass mit der Auswanderung nach Europa die Familien und Gemeinschaften am Herkunftsort ihre stärksten Mitglieder mit der größten Eigeninitiative verlieren, die dort am meisten gebraucht werden. Es kann angehen, jungen Menschen aus Afrika eine gute Ausbildung oder Studium in Europa zu ermöglichen. Aber das Abwerben ausgebildeter Arbeitskräfte lässt die Länder noch mehr ausbluten und wir bereichern uns auf deren Kosten.
Europa hat seinen Nachwuchsmangel selbst verschuldet durch einen einseitigen, individualistischen Lebensstil und materialistischen Fokus auf die Wirtschaft mit zu wenigen Kindern. Dieser Mangel kann nicht mit Zuwanderung ausgefüllt werden, sondern braucht eine langfristige Politik zugunsten von Familien und Kindern und eine beziehungsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Reiche nicht immer reicher und Arme nicht immer ärmer macht. Damit wäre Afrika und anderen Regionen am meisten geholfen, um jungen Menschen Perspektiven zu geben und deren Auswanderung zu vermeiden.
Hinzu kommen europäische Allianzen mit repressiven Regimen wie der Flüchtlingsdeal mit der Türkei und das Atomabkommen mit dem Iran, die diese Regime stützen, vor denen Tausende vor Verfolgung nach Europa fliehen. Eine ganzheitliche Migrationspolitik schließt eine gerechte Wirtschaftspolitik ein und eine Außenpolitik, die sich nicht mit Eigeninteressen an korrupte Regime bindet, sondern sie sanktioniert.
[1] http://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli-tutti.html#_ftn44 Nr. 40.