Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat am 11. März 2020 den Ausbruch des Corona-Virus zur weltweiten Epidemie (Pandemie) erklärt. Das Ende 2019 erstmals in China neu aufgetretene Corona-Virus überträgt sich von Mensch zu Mensch vor allem als Tröpfcheninfektion und kann, anders als die bisher bekannten Corona-Viren, auch zu schweren Infektionen der Atemwege und zu Lungenentzündungen (Pneumonien) führen.

Krankheitsverläufe und Letalität
Die Krankheitsverläufe variieren stark, von Symptomlosigkeit bis zu schweren Pneumonien mit Lungenversagen und Tod (1). Daher lassen sich derzeit keine allgemeingültigen Aussagen zum „typischen“ Krankheitsverlauf machen. Nur 8-10% der in Deutschland gemeldeten Fälle mit einer Corona-Virus-Infektion muss derzeit stationär behandelt werden (1). Der sogenannte Fall-Verstorbenen-Anteil in Deutschland liegt nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts bei 3,8% und ist damit niedriger als der europäische Durchschnitt (10,5 %) (1). Für den Fall-Verstorbenen-Anteil teilt man die Zahl der gemeldeten verstorbenen Fälle durch die Zahl der gemeldeten Fälle in einer Population. Die tatsächliche Anzahl Erkrankter an einer Corona-Virusinfektion wird derzeit sehr wahrscheinlich auch in Deutschland unterschätzt. Zur Letalität der Covid-19 (Corona Virus Disease 2019) Erkrankungen gibt es daher für Deutschland keine verlässlichen Daten (1). Letalität beschreibt die Anzahl der verstorbenen Fälle als Anteil der Zahl der tatsächlich erkrankten Fälle.

Übersterblichkeit
Als gesichert kann dagegen angesehen werden, dass die Todesfälle in erster Linie ältere, vor allem hochbetagte Menschen mit kardiovaskulären und pulmonalen Vorerkrankungen betreffen (2). In Italien waren nur 1,7% der Infizierten unter 20 Jahre alt und es gab nur 178 Todesfälle unter 50 Jahren (1,2%). Etwa die Hälfte der bisherigen Todesfälle betrafen Menschen >80 Jahren, nur 5% der Todesfälle entfiel auf Menschen unter 60 Jahre (2). Im Gegensatz zu COVID-19 betrafen beispielsweise bei der Influenza-Pandemie 1918-19 fast 50% der Todesfälle die Altersgruppe 20-40 Jahre (2).

Der bekannte Epidemiologe John Ioannidis (Stanford University, USA) weist darauf hin, dass Corona-Viren als typische Erreger von Erkältungskrankheiten jedes Jahr für Millionen von Infektionen verantwortlich sind und diese Erkältungskrankheiten bei bis zu 8% älterer, multimorbider Menschen mit Komplikationen wie Pneumonien tödlich enden (3,4). Der einzige Unterschied zu SARS-CoV-2 könnte sein, dass wir Corona-Virus-Infektionsraten bisher nie in der Bevölkerung gemessen haben.
Eine wichtige Limitation bei der Schätzung der Letalität aufgrund oder mit SARS-CoV-2 ist die vermutete hohe Dunkelziffer der nicht erfassten Infektionen. Eine aktuelle Studie aus China bestätigt eine sehr hohe Dunkelziffer (5). Die Wissenschaftler schätzen, dass vor den Reisebeschränkungen vom 23. Januar 2020 in China insgesamt 86% aller Infektionen nicht dokumentiert waren (5). Nicht dokumentierte Infektionen waren auch die Hauptquelle (79%) der Ansteckung der dokumentierten Fälle mit Covid-19. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass eine massive Zunahme der Identifizierung und Isolierung von derzeit nicht dokumentierten Infektionen erforderlich ist, um SARS-CoV-2 unter Kontrolle zu bringen (5).

In Ermangelung von validen Daten zur Letalität geben Angaben zur Mortalität wichtige indirekte Hinweise. Dabei wird für einen bestimmten Zeitraum die Anzahl der Todesfälle zur Gesamtzahl der Bevölkerung ins Verhältnis gesetzt. Wie wirkt sich bisher die Corona-Epidemie in Deutschland auf die Gesamtzahl der Sterbefälle aus? Zur Beantwortung dieser Frage stellt das Statistische Bundesamt Auszählungen von Sterbefallmeldungen aller Standesämter dar (6). Bei der Betrachtung des Jahresverlaufes in der Sterbefallstatistik sind die typischen Schwankungen während der Grippezeit von Mitte Dezember bis Mitte April zu beachten. Auch ohne Corona-Pandemie können die Sterbefallzahlen in der typischen Grippezeit sehr stark schwanken. Im März 2019 starben beispielsweise etwa 86.400 Menschen in Deutschland, im März 2018 waren es 107.100 Verstorbene aufgrund einer schweren Grippe-Epidemie (6). Im März 2020 mit insgesamt 85.900 Sterbefällen ist bei einer monatsweisen Betrachtung kein auffälliger Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren erkennbar. Seit der letzten Märzwoche liegen die tagesgenauen Zahlen zwar tendenziell über dem Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019. Im Gegensatz zu anderen Regionen in Europa wie z.B. in Italien sind die Folgen der Corona-Pandemie in Deutschland bisher kaum in der Gesamtsterblichkeit erkennbar.

Indirekte gesundheitliche Folgen
Es ist nicht auszuschließen, dass die Covid-19-Pandemie weiterhin eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt und die bisher erfolgten Maßnahmen das Einzige war, was getan werden konnte. Es ist aber ebenso möglich, dass durch die derzeit durchgeführten Maßnahmen viel größerer Schaden angerichtet wird, als durch die Epidemie selbst. Diese Auswirkungen können erhebliche negative Folgen für die Gesundheit (u.a. Selbstmorde, Verschlechterung der psychischen Gesundheit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen) sein. Eine weitere negative Folge sind verzögert stattfindende oder nicht erfolgte medizinische Maßnahmen aufgrund Beschränkungen der Versorgung. Eine aktuelle Umfrage ergab, dass OP-Kapazitätsbeschränkungen zur Vorhaltung von Intensivkapazitäten für Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion Einfluss nehmen auf die kolorektale Chirurgie in Deutschland – auch bei onkologischen Patienten (7). Die aktuelle Umfrage unter 112 chirurgisch kolorektalen Spezialisten ergab, dass 87 Prozent der teilnehmenden Kliniken aufgrund der Covid-19-Pandemie ihre OP-Kapazität einschränken mussten, z.T. auf 20 Prozent der üblichen Kapazitäten (7). Die Mehrzahl der Befragten hielt eine Verzögerung der operativen Therapie aus medizinischen Gründen für nicht gerechtfertigt. Die Befragung wirft die Frage auf, wie viel Prognoseverschlechterung onkologischer Patienten für die Kapazitätsvorhaltung von im Wesentlichen noch nicht eingetretenen Erkrankungsfällen mit Covid-19 in einem hoch entwickelten Industrieland zu tolerieren ist (7).

Erst wenn die sogenannte Durchseuchung der Bevölkerung bei 60 bis 70 Prozent liegt, ist die Pandemie unter Kontrolle. Derzeit liegt man in Deutschland laut Schätzungen des Robert-Koch-Instituts im einstelligen Prozentbereich. Die entscheidende Frage ist daher, wie lange die Maßnahmen von social distancing und lockdown aufrechterhalten werden können, ohne gravierende Konsequenzen für die Gesundheit der Bevölkerung zu haben.

Fazit
Es gibt insgesamt noch sehr wenig belastbare epidemiologische Daten, weder zu Covid-19 selbst noch zu den Auswirkungen der derzeit ergriffenen Maßnahmen. Daher ist aus epidemiologischer Sicht wichtig, die gesamte Infektions- und Krankheitslast durch Influenzaerkrankungen sowie deren Folgen in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe zu erfassen. Zufallsstichproben der Gesamtbevölkerung sollten auf SARS-CoV-2 untersucht werden, um die wahre Durchseuchungsrate zu erfassen. Gleichzeitig sollten die indirekten gesundheitlichen Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie durch versorgungsepidemiologische Studien abgeschätzt werden. Aus gesundheitspolitischer Sicht ist zu fordern, dass die bisher maßgeblich den öffentlichen Diskurs bestimmende kleine Gruppe von Virologen, RKI-Mitarbeitern und führenden Bundes- und Landes-Politikern durch ein breiteres Expertengremium ergänzt wird. Hierzu sollten neben Klinikern verschiedener Fachdisziplinen auch Versorgungsforscher, Public Health-Experten, Gesundheitsökonomen und Medizinethiker eingebunden werden.

06.05.2020
Prof. Dr. med. Wolfgang Rathmann MSPH (USA), Essen
Arzt, Epidemiologe

Literatur:

  1. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Corona-Virus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText3
  2. https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/covid-19
  3. Ioannidis J. In the Corona-Virus pandemic, we’re making decisions without reliable data. STAT2020. https://www.statnews.com/2020/03/17/a-fiasco-in-the-making-as-the-Corona-Virus-pandemic-takes-hold-we-are-making-decisions-without-reliable-data/
  4. Ioannidis JPA, Axfors C, Contopoulos-Ioannidis DG. Population-level COVID-19 mortality risk for non-elderly individuals overall and for non-elderly individuals without underlying diseases in pandemic epicenters [Internet]. Epidemiology; 2020 [zitiert 2020 Apr 15]. Available from: http://medrxiv.org/lookup/doi/10.1101/2020.04.05.20054361
  5. Li R, Pei S, Chen B, Song Y, Zhang T, Yang W, Shaman J. Substantial undocumented infection facilitates the rapid dissemination of novel Corona-Virus (SARS-CoV-2). Science. 2020 May 1;368(6490):489-493
  6. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/sterbefallzahlen.html
  7. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/sw/Kolorektales%20Karzinom?s=&p=1&n=1&nid=112454