Wir haben in vorangegangenen Beiträgen die staatstragende Rolle der Christdemokratie im Deutschland der Nachkriegszeit dargestellt sowie deren Einflussverlust in den letzten Jahrzehnten. Der folgende Beitrag verbindet das Relationale Denken, das wir in Bündnis C als Grundprinzip einer christlich geprägten Gesellschaft entwickeln, mit den Voraussetzungen der Christdemokratie. Können wir mit diesen Prinzipien unsere Gesellschaft neu herausfordern und wiederbeleben?

Die Ursprünge der Christlichen Demokratie

Die Christdemokratie entstand in Europa gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die industrielle Revolution und die darauffolgende Verstädterung hatten die Gesellschaft tiefgreifend gespalten. Das Kapital war in den Händen weniger Besitzer konzentriert, die Masse der Arbeiter verarmte und hatte keinerlei soziale Absicherung. 1848 war Karl Marx‘ „Kommunistisches Manifest“ erschienen. Die Arbeiterfrage trat in den Vordergrund der gesellschaftlichen Debatten und wurde von den widerstreitenden Ideen des Sozialismus und des Liberalismus dominiert. In den sozialen und ideologischen Verwerfungen wurde den Christen klar, dass ein neues Paradigma nötig war und sie zur Schaffung eines auf christlichen Werten basierenden Gesellschaftsmodells beitragen müssten.

Katholische Soziallehre

1891 veröffentlichte Papst Leo XIII. das erste päpstliche Rundschreiben zur Arbeiterfrage, die Sozialenzyklika „Rerum novarum“1. Er verfolgte generell die Aussöhnung von Kirche und Kultur und die Öffnung der Kirche gegenüber der modernen Welt. „Rerum Novarum“ enthält eine Vision für den Wiederaufbau der sozialen Ordnung nach dem Naturrecht, basierend auf biblischen Maßstäben, und wurde zum grundlegenden Dokument der Katholischen Soziallehre. Die Soziallehre beruht auf den Grundsätzen

  • dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist, eine unveräußerliche Würde hat und nicht nur Kapital oder Arbeitskraft ist
  • dass das persönliche Besitzrecht und das Eigentum von Familien als Naturrecht lange vor dem Staat bestanden und nicht von diesem vereinnahmt werden dürfen
  • dass die Familie als häusliche Gemeinschaft älter ist als jegliches andere Gemeinwesen und unabhängig vom Staat ihr innewohnende Rechte und Pflichten hat
  • dass der Schutz des Privateigentums ein friedliches Zusammenleben gewährleistet (2Mose 20,17).

Papst Leo XIII. wendet sich damit gegen den von den Sozialisten angestachelten Klassenkampf und gegen eine sozialistische Vergemeinschaftung von Eigentum. Mit dem Wegfall persönlichen Besitzes würde auch die Motivation für Fleiß und damit die Quellen des Wohlstandes versiegen. Die geforderte Gleichmachung widerstrebt zudem der Einzigartigkeit der Menschen, deren Verschiedenheit der Kräfte im gesellschaftlichen Zusammenspiel gebraucht wird. Er plädiert stattdessen für Versöhnung, brüderliche Liebe und Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Arbeitgeber sollen die Arbeiter mit Ehre behandeln, sie nicht rücksichtslos ausbeuten und die Folgen ihres Reichtums für die Ewigkeit bedenken. Der Mensch soll nicht von staatlicher Fürsorge abhängig, sondern in der Lage sein, seinen Unterhalt und den Erwerb seiner Familie selbst zu erwirtschaften und zu vermehren. Der Staat darf die Befugnisse der Familie und des Einzelnen nicht an sich reißen. Ein sozialistisches System, das die elterliche Fürsorge durch eine allgemeine Staatsfürsorge ersetzt, versündigt sich an der natürlichen Gerechtigkeit. Gleichzeitig betont Leo XIII. die christliche Sozialverpflichtung von Familien und Besitz, gerechte Löhne und gesetzlichen Schutz für die Arbeiter. Gegen den Liberalismus spricht er sich für eine staatliche Sozialpolitik aus mit einer Gesetzgebung zur Förderung des Gemeinwohls, das die Arbeiter mit ihrer Arbeitskraft maßgeblich schaffen.

Die Lehre von „Rerum novarum“ wurde als „katholischer Mittelweg“ zwischen Sozialismus und Liberalismus bekannt – in dem Bewusstsein, dass ohne die Kirche und die verändernde Kraft des christlichen Glaubens es keinen Ausweg aus den ideologischen Irrwegen und der Polarisierung der Fronten gab. Sie wurde zur Initialzündung für die Herausbildung der Christdemokratie in vielen Teilen der Welt. In Deutschland hatte sich bereits 1870 die Zentrumspartei gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg flossen die Forderungen der Katholischen Soziallehre nach gerechtem Lohn, menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, der gerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie sozialer Partnerschaft in die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ein. In vielen Ländern Europas wurden christdemokratische Parteien gegründet. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten entwickelten Politiker in aller Welt einen christdemokratischen Weg jenseits von Liberalismus und Kommunismus.

Calvinismus: Souveränität der Sphären

Im Protestantismus fehlt eine international etablierte Lehre für das öffentliche Leben und politische Beteiligung. Für die reformierten Kirchen entwickelte Abraham Kuyper (1837-1920) die umfassendste Konzeption für ein christlich-sozialpolitisches Engagement2 und spielte damit ebenfalls eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung zur Christdemokratie. Als Antwort auf die Herausforderungen der industriellen Revolution rief er Ende des 19. Jahrhunderts die Christen in die Hingabe an Gott und zu einer neuen Verpflichtung gegenüber den Mitmenschen. Kirche und Religion sind keine isolierte Sphäre der Christen, sondern Aspekte der größeren universellen Realität und Pluralität. Familie, Wirtschaft, Politik, Bildung und Wissenschaft, Kunst und Kultur sind souveräne gesellschaftliche Sphären, die ihre Existenz nicht dem Staat verdanken, sondern deren Autorität ihren Ursprung direkt in der Schöpfung hat. Es gibt eine untrennbare Verbindung zwischen Glauben und Politik, in der die Christen stehen müssen. Eine Gesellschaft kann nicht neutral sein, Politik basiert immer auf einer Weltanschauung.

Kuyper betont die starke Rolle der Zivilgesellschaft gegenüber einer strikt begrenzten Macht des Staates. Die Sphären der Zivilgesellschaft haben ihr eigenes göttliches Mandat und ihren spezifischen Anteil an der Souveränität Gottes, unabhängig von der Regierung. Die Rechte der Sphären wie auch der Individuen jedes Gesellschaftsbereiches werden ihnen nicht von der Regierung, sondern von Gott selbst gegeben. Staatliche Stellen erkennen diese Rechte lediglich an. Die politische Autorität muss die Integrität der anderen Sphären respektieren, jede Form des Lebens unabhängig von seiner eigenen Sphäre ehren und erhalten und die Beziehungen zwischen und innerhalb der Sphären richtig ordnen. Kuyper wendet sich damit gegen ein sozialistisches System, in dem die Macht bei der Regierung konzentriert ist, wie auch gegen die liberalistische Vorstellung einer Gesellschaft autonomer Individuen.

Orthodoxie

Traditionell steht in der Orthodoxie die Liturgie im Vordergrund. Eine ganzheitlichere Vision wurde 2020 veröffentlicht3, das als politisches Manifest der Östlichen Orthodoxie verstanden werden kann. Seine Botschaft der Versöhnung erhielt im Licht des Krieges Russlands in der Ukraine eine hohe Dringlichkeit. Es betont die relationale Natur des Menschen und seinen Ruf in die liebende Gemeinschaft mit Gott, seinem Nächsten und der ganzen Welt. Christen sollen Strukturen unterstützen, die die öffentliche Ordnung, Freiheit, Menschenrechte und Demokratie garantieren. Das Gemeinwohl muss im Zentrum des sozialen Lebens stehen, damit demokratischer Pluralismus nicht zu einem Absolutismus des freien Marktes und Konsumismus verfällt. Das Zentrum kirchlichen Engagements ist die Sorge für die Armen, Schwachen und Benachteiligten. Die Menschenrechte müssen durch Strukturen der Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gestützt werden. Sozialökonomische Aspekte befürworten Sozialleistungen und nicht ausbeuterische Arbeitsbedingungen.

Relationales Denken4

In allen drei Konzeptionen der Kirchen sind Ansätze des Relationalen Denkens für eine florierende Gesellschaft verankert. Das Konzept selbst wurde von evangelikalen Forschern u. a. des Jubilee Centre in Cambridge5 seit der 1980er Jahren entwickelt. Sie reagierten damit auf die vorwiegend individuelle Perspektive der Nachfolge Jesu in der evangelikalen Theologie und das Fehlen einer ausgearbeiteten Vision für das öffentliche Leben und politisches Engagement. Die Vision stützt sich sowohl auf die politische Ordnung Israels im Alten Testament als auch die Erfüllung des Gesetzes, wie Jesus sie im Liebesgebot des Neuen Testaments zusammenfasst: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18).“ (Lk 10,27).

Die politische Vision des Relationalen Denkens ist im Wesentlichen:

  • Alle Menschen sollen ein Zuhause haben.
  • Lokale Gemeinden sollen auf engmaschigen, aber inklusiven Haushalten aufgebaut sein.
  • Nationen sollen nach innen kohärent und nach außen mit ihren Nachbarn vernetzt sein.

Innerhalb dieser einfachen Vision soll jede Institution wie Familien, Unternehmen oder die Regierung so funktionieren, dass die Beziehungen aller Ebenen die Qualität von Verwandtschaft oder Brüderlichkeit haben. Das Konzept der Verwandtschaft gleicht im Charakter der Beziehungsqualität mehr einem Bund im Gegensatz zu einer vertraglichen Form von Beziehung. Brüderliche Liebe wird freiwillig gegeben, nicht gezwungenermaßen oder als Tauschhandel. Souveränität kommt in dieser Vision nur Gott zu, menschliche Autoritäten sind ihm untergeordnet. Nur so sind der Staat, Nationen, Gesellschaften oder Einzelne davor gefeit, andere zu dominieren oder zu beschädigen.

Die Kräfte der Kirchen bündeln

Die biblische Fundierung des Relationalen Denkens verbindet sich mit den theologischen Grundlagen der Katholischen Soziallehre und protestantischer Ansätze wie dem der Sphären-Souveränität und findet sich auch in der relationalen Perspektive der Orthodoxie auf den Menschen und die Welt wieder. Es hat damit das Potenzial für einen gemeinsamen Ansatz der Kirchen, in dem sich die Konzepte gegenseitig ergänzen und befruchten, um die Christdemokratie wieder mit ihren biblischen Quellen zu verbinden und neu zu beleben.

Die politische Schlüsselidee der Katholischen Soziallehre, das Gemeinwohl, vereint die Prinzipien von Beziehungsorientierung, Subsidiarität und der Zivilgesellschaft und damit die Grundzüge einer biblisch fundierten, relationalen Gesellschaftsvision. Das Herz ist die Familie mit ihren engen Beziehungen, die aber nicht exklusiv, sondern offen sind wie das biblische Konzept des Haushalts, und durchlässig zur lokalen Gemeinde hin. Papst Franziskus charakterisiert in seiner Enzyklika „Fratelli Tutti“ (2020) den von der Soziallehre inspirierten Einsatz für das Gemeinwohl als politische Liebe. Menschen dürfen nicht weiter auf Individuen reduziert werden, die leicht beherrscht werden können. „Eine gute Politik sucht nach Wegen zum Aufbau von Gemeinschaften auf verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, um so die Globalisierung wieder auszugleichen und neu zu orientieren und ihre zersetzenden Auswirkungen zu vermeiden.“6 Universale Brüderlichkeit und soziale Freundschaft sind nicht trennbar.

Das reformierte Denken unterstreicht die organische Verbindung zwischen allen Sphären und Akteuren der Gesellschaft und deren Angewiesensein aufeinander. Es betont dezentrale Strukturen, damit jede Sphäre in Freiheit sich entwickeln kann, aber nicht unabhängig oder andere dominierend. Kuyper weist auf die Gefahr hin, dass durch menschliche Sünde die organische Ordnung einer familien-basierten Gesellschaft korrumpiert wird und durch eine mechanische, staatliche Ordnung ersetzt werden muss. Diese Entwicklung ist in Deutschland zu beobachten, wo mit der Aufgabe christlich-moralischer Standards immer mehr Gesetze gemacht wurden, um Fehlverhalten einzudämmen. Damit unterwanderte die Christdemokratie aber gleichzeitig ihr Prinzip der Eigenverantwortung. Der Staat dominiert immer mehr alle Sphären der Gesellschaft und florierendes Leben wird abgewürgt. Das Relationale Denken arbeitet anhand der politischen Ordnung Israels heraus, wie das öffentliche Leben vom Prinzip der Verwandtschaft her geordnet war und zugleich politische Mechanismen einsetzte, die das Böse im Zaum hielten. Wir brauchen auch heute die Vitalität brüderlicher Beziehungen mit einem schützenden Rahmen und Grenzen gegen Missbrauch und Gewalt.

Mit der Orthodoxie eint das Relationale Denken die theologischen Grundsätze und ethische Positionen, die mit einem beziehungsorientierten Denken begründet und verteidigt werden. Das Konzept des Relationalen Denkens erweitert die biblische Perspektive alt- und neutestamentlich und kann eine engere Interaktion von Orthodoxie und Christdemokratie mit befördern.

Die Zeit ist reif

In Bündnis C haben wir uns die Ausarbeitung politischer Programme unter Zugrundelegung des biblisch begründeten, beziehungsorientierten Denkens zur Aufgabe gemacht, wie sie die Konzeption des Relationalen Denkens entwickelt hat. Zusammen mit unseren europäischen Partnern arbeiten wir an einer Vision für unsere Nationen und Europa, die Auswege aus den Krisen aufzeigen, in die wir uns eigenmächtig hineinmanövriert haben. Wir schätzen die herausragende Rolle, die die Christdemokratie in Deutschland und für den Aufbau des Nachkriegseuropas gespielt hat. Wir wollen unseren Beitrag leisten, die Voraussetzungen wieder zur Geltung zu bringen, aus denen christlich-demokratische Politik geschöpft hat. Diese biblischen Voraussetzungen finden sich im Konzept des Relationalen Denkens wieder und stützen die Säulen eines demokratischen Staatswesens, das ohne sein christliches Fundament nicht mehr demokratisch sein wird:

  • Rechtsstaatlichkeit geht auf die Gesetze der Torah zurück. Das Recht steht über der Macht.
  • Gerechtigkeit ist Gleichheit vor dem Gesetz und Durchsetzung des Rechts wie auch soziale Gerechtigkeit.
  • Solidarität resultiert aus Nächstenliebe, Zugehörigkeit und Verbundenheit.
  • Freiheit ist keine autonome Freiheit von allem, sondern Freiheit zur Verantwortung vor Gott und Menschen.
  • Verantwortung erfordert den Beitrag, den Menschen und Gruppen zur Gesellschaft leisten.
  • Als Verwalter für die Gesellschaft und die Schöpfung sind wir Gott rechenschaftspflichtig.

Wir erleben immer wieder Initiativen, die den demokratischen Charakter unserer Gesellschaft erhalten wollen, jedoch die christlichen Grundlagen nicht mehr kennen oder meinen, darauf verzichten zu können. Unsere Rolle als christliche Partei ist es, diese Grundlagen in Erinnerung zu bringen und daraus Antworten zu entwickeln, wo die ideologischen Irrwege gescheitert sind.

Karin Heepen

1 http://www.kathpedia.com/index.php?title=Rerum_novarum_(Wortlaut)

2 Abraham Kuyper, „Calvinism and Politics“ in: Lectures in Calvinism (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1931)

3 For the Life of the World. Towards a Social Ethos of the Orthodox Church https://www.goarch.org/-/social-ethos-news-release-2020-03-27

4 Vgl. Matthew N. Williams, A Relational Vision for Europe: Revitalising Christian Democracy Today (Sallux Publishing 2022), S. 53-65.

5 https://www.jubilee-centre.org/

6 https://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli-tutti.html , 182.