Notre Dame brannte am Beginn der Karwoche – und traf Millionen Europäer ins Herz. Hier brannte ein Symbol unserer Identität, die Europa dabei ist zu verbrennen – im Irrglauben der Aufklärung, damit die Freiheit zu gewinnen. Aber heute ist Ostern, Tag der Auferstehung Christi …

Die Mauern der Kirche stehen noch, die weltberühmte Fassade auch, und wie ein Wunder ist der Altarraum mit dem goldenen Kreuz erhalten geblieben. Wenige Tage vor dem Brand wurden zudem 16 Kupferfiguren aus dem 19. Jahrhundert vom Dach geholt, um sie zu restaurieren: die 12 Apostel und die 4 Evangelisten – die Autoren des Neuen Testaments, ohne das es in Europa keinen Glauben und keine Kirchen gegeben hätte.

Wie keine andere Kirche steht Notre Dame für die Geschichte und die Identität Europas, älteste gotische Kirche Europas, mitten in Paris. Von Frankreich breitete sich die Gotik in Europa aus. Von Frankreich ging auch die erste säkulare Revolution in Europa aus, blutige Umsetzung der Ideen der Aufklärung. Von Frankreich ging mit Robert Schuman auch eine Vision des Friedens und der Versöhnung für Europa aus nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Aus zutiefst christlicher Motivation entstand das Friedensprojekt der europäischen Gemeinschaft, das heute nach 70 Jahren wie nie zuvor in Gefahr ist.

Es ist ein Augenblick des Innehaltens. Viele in Europa beginnen zu verstehen, dass es hier um mehr als eine alte Kirche und kulturhistorisches Erbe geht. Fragen tauchen auf, ob hier mehr brennt als Notre Dame. Wofür Europa eigentlich steht und was uns ausmacht. Die Grundfesten Europas sind in Gefahr, das spüren viele im Vorfeld dieser Europawahl, im Brexit, im Zerriss Europas zwischen sich widersprechenden Zielvorstellungen. Wie ist Einheit möglich und wenn ja, was gibt uns Einheit?

Es geht um die Fundamente unserer Geschichte, Kultur und Identität. Wer nicht bis zu diesem Fundament unserer christlichen Wurzeln graben will, wird mit Europa scheitern. Aber genau dort, auf diesem Fundament, ist Hilfe und Hoffnung, die uns einen kann, die uns sagt, woher wir kommen und wo wir die Schätze unserer Zukunft empfangen haben.

Notre Dame wurde in etwa 200 Jahren Bauzeit errichtet. Gründliche Arbeit, von den Fundamenten her majestätisch aufstrebend bis zu den Spitzen der Türme zur Ehre Gottes. Ein Wiederaufbau in fünf Jahren klingt eher nach einem Akt der Verzweiflung – der aber den inneren Wert des Gebäudes für unsere Identität nicht wiederherstellen kann. Ob diese Kirche wieder originalgetreu hergestellt wird und in welcher Zeit, ist nicht eine Frage des Geldes. Mit den Werten unserer christlichen Prägung ist auch Können, Kunst und Expertise verlorengegangen. Ob wir die Handwerker finden, die Notre Dame wieder ins komplette Bild setzen können, ist aber nicht das Entscheidende.

So wie die Flammen Teile von Notre Dame gefressen haben, so wurde unsere christliche Identität von der Moderne verlassen und von der Postmoderne verbrannt – bis auf Reste, die kaum noch erkennbar sind. So wie man Notre Dame nicht mehr bewahren kann, sondern nur wiederaufbauen, so können wir auch unsere christliche Identität nicht einfach bewahren, die zu einer weitgehend leeren Hülle geworden ist und in Europa auch von Gruppen beschworen wird, die Christus nicht kennen. Der Wiederaufbau dieser unserer Identität kann nur vom Zentrum her geschehen, von dem, was nicht verbrennen kann, sondern in Zeit und Ewigkeit bleibt: vom Wort Gottes her, das uns in Europa die Grundlagen unserer Identität, unserer Ethik und unseres Wohlergehens gegeben hat, und vom Kreuz Christi her, Symbol von Tod und Auferstehung auch aus Flammen der Vernichtung. Möge Notre Dame wieder zum Pilgerort werden im Zentrum Europas – nicht mehr nur für Millionen Touristen, sondern für Millionen neuer Gläubiger, die an diesem Ort beten und die ausgebrannten Mauern damit erfüllen. Den Anfang haben unsere französischen Geschwister in der Nacht des Infernos gemacht.

20.04.2019

Karin Heepen