Seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine steht Deutschland unter Druck, die Gasimporte aus Russland einzustellen. Deutschlands Energieversorgung ist abhängig von russischem Gas, Öl und Steinkohle. Bündnis C plädiert für eine beziehungsorientierte Transformation der Wirtschaft, und die Beziehung zu Russland nicht komplett zu kappen. Ein Importstopp schadet Deutschland und Europa mehr, als dass es den Krieg beendet.
Deutschland bezieht etwa 55% seines Gases, 50% der Kohle und 35% seiner Ölimporte aus Russland. Die einseitige Abhängigkeit von russischem Gas wurde nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine als riskant gesehen und Diversifizierung angemahnt. Gegen Nord Stream 2 intervenierten vor allem Polen und die Ukraine. Seit der Eskalation des Krieges arbeitet Wirtschaftsminister Habeck daran, Lieferanten für Flüssiggas und Wasserstoff zu finden. Damit soll Deutschland bis zum nächsten Winter unabhängig von russischer Kohle und Öl werden. Gas aus Russland ist bis dahin mangels Flüssiggas-Terminals nicht zu ersetzen und auch mittelfristig höchstens teilweise. Eine am 20. März mit Katar vereinbarte Energiepartnerschaft mit Flüssiggas soll ab 2025 greifen.
Deutschlands Energiewende funktioniert nur mit Gaskraftwerken als Überbrückung. Dafür braucht es mehr Gas als die meisten anderen europäischen Länder. Russland ist der weltweit größte Exporteur von Erdgas und Erdöl mit etwa einem Fünftel der weltweiten Erdgasförderung und einem Zehntel der weltweiten Ölförderung. Es geht bei einem Ende von Gaslieferungen aus Russland nicht nur um höhere Energiepreise oder Komfortverzicht, sondern spätestens im nächsten Winter um die Grundversorgung: Heizung für Haushalte, Firmen und öffentliche Gebäude, Infrastruktur und Verkehr, nachrangig um die Industrie. Ohne den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine damit auf eine Stufe zu stellen, wären die Auswirkungen in Deutschland kriegsähnlich, auch für Flüchtlinge aus der Ukraine, Alte, Kranke, Kinder, Familien.
Habeck sieht als Konsequenz eine doppelte Notwendigkeit, die Versorgung auf erneuerbare Energien umzustellen: für den Klimaschutz und um von russischen Energieimporten wegzukommen. Die deutsche Politik hat das Land jedoch nicht nur mit der Abhängigkeit von russischem Gas, sondern mit der überstürzten Energiewende in die aktuelle Sackgasse manövriert. Die einheimische Energieversorgung darf sich nicht weiter nur auf unzuverlässige Solar- und Windenergie stützen, sondern muss den Kohleausstieg und die Abschaltung der Kernkraftwerke auf den Prüfstand stellen. Beides lehnt Habeck bisher ab. Angesichts der realen Kriegsgefahr für Europa wird die Abkehr von fossilen Brennstoffen jedoch zweitrangig. Und es ist ehrlicher, billiger und sicherer, Atomstrom selbst zu produzieren, als ihn von Nachbarländern zu kaufen, die selbst Importe aus Russland kompensieren wollen.
Eine entscheidende Frage für den Boykott der Importe ist, ob Putin deshalb den Krieg in der Ukraine beenden würde. Autokraten interessieren sich wenig für das Leiden der eigenen Bevölkerung. Putin zeigt sich bisher von keinerlei politischer oder wirtschaftlicher Gegenwehr beeindruckt und wird wahrscheinlich Möglichkeiten finden, seinen Krieg weiter zu finanzieren – so wie auch die EU fortwährend neues Geld schöpft.
Putin war bisher nicht unberechenbar. Er hat seinen Krieg für jeden sichtbar vorbereitet, nur der Westen wollte es nicht wahrhaben. Russland hat sich bisher an alle Energieverträge gehalten und liefert weiter nach Deutschland und Europa. Auch durch die Transgas-Pipeline durch die Ukraine kommt weiter russisches Gas. Moskau hat als Reaktion auf die Sanktionen mit einem Embargo von Nord Stream 1 gedroht, aber die Abhängigkeit ist beidseitig. Russland generiert mit dem Gasexport über 300 Mrd. € jährlich. Dennoch weiß niemand, wie die kriegerischen Auseinandersetzungen eskalieren, und niemand kann sich weiter auf Gas und andere Rohstoffe aus Russland verlassen.
Mittelfristig geht kein Weg an der Diversifizierung der Energieversorgung vorbei, um Deutschlands Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten zu reduzieren. Bereits die Corona-Krise hat die Anfälligkeit globaler Lieferketten und Abhängigkeiten gezeigt. Bündnis C plädiert für die Konsolidierung der einheimischen Energieversorgung mittels moderner Atomkraft und Kohle, Wasserstoff und Brennstoffzellen und erneuerbaren Energien, und angesichts der global zunehmenden internationalen Spannungen für die Diversifizierung der Importe von Gas und Öl.
Kurzfristig steht jedoch die von Bundesaußenministerin Baerbock angestrebte wertebasierte Außenpolitik der Ampelregierung auf dem Prüfstand der Realität. Deutschland unterhält außer mit Russland Wirtschaftsbeziehungen mit zahlreichen anderen Ländern, die Kriege führen im In- oder Ausland. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner des Iran in der EU und verhandelt zurzeit eine Neuauflage des Atomabkommens mit, das mit Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran die Sicherheit Israels massiv gefährdet. Bezeichnenderweise hat Russland den Abschluss Mitte März mit neuen Forderungen boykottiert, offenbar um den Iran als Alternative für russische Öl- und Gaslieferungen nach Europa zu verhindern. Sind Handelsbeziehungen mit dem Iran wertebasiert oder moralischer als mit Russland, weil der Aggressor nicht in Europa agiert? Haben die USA 2003 einen gerechten Krieg im Irak geführt oder Deutschland mit dem NATO-Einsatz 2011 in Libyen? Katar unterhält strategische Beziehungen zum Iran und der Türkei und kümmert sich um Menschenrechte wahrscheinlich noch weniger als Putin. Wie zuverlässig ist diese islamistische Autokratie, wenn wir auf ihr Flüssiggas bauen, zumal Russland immer mehr Einfluss im Nahen Osten gewinnt?
Wer russisches Gas und andere deutsche Abhängigkeiten von Unrechtsstaaten sofort und komplett abschalten will, kann das nicht im Vertrauen auf kurzfristig verfügbare Alternativen. Als Christen vertrauen wir auf die Versorgung Gottes auch für unser Land, wenn die bisherigen Quellen versiegen. Das gilt, wenn Russland das Gas abdrehen sollte, genauso wie für Getreide, Futtermittel und Schlachtvieh, die bereits jetzt nicht mehr aus Russland und der Ukraine kommen.
Mittelfristig ist dieser Krieg Herausforderung, Wirtschaft, Handel und Versorgung neu zu denken. In Bündnis C haben wir mit unseren europäischen Partnern beziehungsorientierte Modelle für Wirtschaft und Finanzsysteme erarbeitet, die nicht auf Wachstum um jeden Preis, sondern Fairness und Gegenseitigkeit für alle Beteiligten setzt. Eine Wirtschaft, die nicht finanzzentriert ist, sondern wo der Mensch und tragfähige Beziehungen im Mittelpunkt stehen, setzt an regionaler Versorgungssicherheit an und der Rückverlagerung systemrelevanter Produktion ins Inland bzw. den europäischen Binnenmarkt. Das gilt vor allem für die Nahrungsmittelversorgung und verlässliche, innovative Energiequellen. Wir brauchen die einheimischen Ackerflächen für Getreide statt Biomasse. Und das gilt auch in den Beziehungen zu anderen Ländern, Unternehmen und Partnern. Unsere Wirtschaft darf nicht weiter auf Kosten ärmerer Länder arbeiten und genauso wenig sich Unrechtsregimen andienen zum eigenen Vorteil.
Es wird reklamiert, dass die Ukraine nicht nur ihr Land, sondern europäische Werte verteidigt. Es geht in diesem Krieg aber nicht um die Verteidigung von Werten, die Europa selbst immer mehr ausgehöhlt hat. Es geht um das Überleben sowohl für die Ukraine als auch für Russland und Europa. In unserem Beziehungsdenken sind Russland und die Ukraine eingeschlossen. Gerade weil die Ukraine entsetzliche Zerstörung erleidet, darf keine Möglichkeit ausgelassen werden, Russland für Frieden zurückzugewinnen. Wo die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas kurzfristig als Verhängnis erscheint, ist sie auch Grund, die Beziehung nicht abzubrechen. Die Europäische Gemeinschaft begann mit der Montanunion als Wirtschaftsgemeinschaft, um Krieg unmöglich zu machen. Handelsbeziehungen sind auch Brücken der Verständigung. Hingegen würde der einseitige Boykott von Energie und Rohstoffen aus Russland den Bruch der Wirtschaftsbeziehungen mit Europa bedeuten und die Hemmschwelle, den Krieg auf Europa auszuweiten, erheblich senken.
Die Verführbarkeit Deutschlands unterscheidet sich von der Russlands nur graduell. Russland zu dämonisieren, bringt keinen Frieden, sondern befeuert das Kriegsgeschrei. Wir weisen Putins barbarischen Krieg in aller Deutlichkeit zurück, kämpfen aber nicht gegen das russische Volk. Die Krise der Energieversorgung durch den Krieg ruft nach Umkehr von falschen Entscheidungen, aber vor allem von eigener Selbstgerechtigkeit. Diese Umkehr ist möglich in Demut und Vertrauen auf Gott und seine Versorgung in dieser Krise, wenn die eigenen Möglichkeiten am Ende sind. Russland darf dabei nicht völlig isoliert werden, um ein zukünftiges Europa in Frieden auch mit Russland möglich zu machen.