66,4 % haben in Irland für die Lockerung des Abtreibungsverbots gestimmt. Der achte Zusatzartikel der irischen Verfassung wird nun gestrichen: „Der Staat erkennt das Lebensrecht des Ungeborenen an und garantiert, mit Rücksicht auf das gleiche Recht der Mutter auf Leben, dieses Recht, soweit durchführbar, zu verteidigen und zu rechtfertigen.“ Es stellt sich neu die Frage: Gibt es ein alleiniges Recht auf Selbstbestimmung der Frau über Leben und Tod ihres Kindes?

Die Legalisierung der Abtreibung in den Ländern Europas seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ist einerseits Frucht des Feminismus. In seinem Bestreben, Frauen die vermeintlich gleichen Rechte wie Männern einzuräumen, haben Kinder keinen Platz. Kinder zu empfangen, auszutragen, zur Welt zu bringen und zu nähren, sind typisch weibliche Aufgaben. Und die soll es im Feminismus nicht geben und schon gar nicht in der nachfolgenden Gender-Ideologie. Kinder wurden zunehmend als Zumutung für die Frau, als Karrierekiller oder gar als Parasit im weiblichen Körper empfunden.

Nun behauptet niemand, dass Schwangerschaft, Geburt und das Großziehen von Kindern keine Opfer und Verzicht fordern würden. Leben zu schenken und außer dem eigenen zu fördern, hat mit Selbstlosigkeit zu tun. Aus theologischer Perspektive kommen dazu die Folgen des Sündenfalls, vorausgesagt in 1Mose 3,16.

All das gilt seit Menschengedenken. Abtreibungen oder den Versuch gab es auch schon immer. Dennoch hat sich die Menschheit vermehrt, haben Frauen in der Regel weder die Mühen noch die Schmerzen gescheut, die damit für sie verbunden sind. Erst der Feminismus hat dahinter ein dickes Fragezeichen gesetzt, Frauen eingeredet, dass Kinderkriegen eine Zumutung ist und damit – billigend oder gewollt? – eine aussterbende Gesellschaft produziert. Theologisch gesehen handelt es sich um einen eigenmächtigen Versuch, den Folgen des Sündenfalls entkommen, indem man Kinder und die damit verbundenen Mühen vermeidet und so auch die Abhängigkeit vom Vater des Kindes. Solche Versuche ohne Erlösung durch Jesus Christus und gegen die Schöpfungsordnung sind regelmäßig mit schweren Nebenwirkungen für die Beteiligten behaftet: in diesem Fall mit dem Tod der Kinder, psychischen Belastungen der Mütter wie dem Postabortion-Syndrom, ohnmächtigen Vätern, verunsicherten Geschwistern, Großeltern ohne Enkel und im Großen einer dezimierten nächsten Generation. 

Der Feminismus hat erkämpft, dass niemand außer der Frau selbst darüber bestimmen soll, ob sie ein Kind zur Welt bringt oder abtreibt. Den Weg für dieses alleinige Selbstbestimmungsrecht der Frau hat jedoch die Individualisierung der Gesellschaft das letzte Jahrhundert hindurch bereitet. Bis dahin war es höchstens im Verborgenen möglich, dass Frauen eine solche Entscheidung autonom von ihren Familien trafen. Denn ein Kind gehört mitnichten allein seiner Mutter.

Im beziehungsorientierten Politikansatz, den Bündnis C entwickelt, sehen wir den Menschen nicht als autonomes Individuum, sondern als Beziehungswesen – eingebunden in die Beziehung zu Gott und seinen Mitmenschen. Ein Kind ist in dieser Perspektive zuerst Kind des Schöpfers, der es ins Leben ruft. Kinder sind nicht Eigentum ihrer Eltern, sondern ihnen anvertraut. Damit verbietet sich eine autonome Herrschaft der Eltern über Leben oder Sterben des Kindes. In der zwischenmenschlichen Beziehung hat jedes Kind Vater und Mutter. Ein Vater hat bei der bestehenden Gesetzeslage jedoch keinerlei Mitspracherecht, wenn die Mutter sein Kind abtreibt. Kinder haben Geschwister, die in ihrer Daseinsberechtigung mit verunsichert werden, wenn ein Geschwisterkind abgetrieben wird. Es hätte auch sie treffen können. Großeltern tragen eine Mitverantwortung, Kinder und Enkel zu unterstützen, und werden meist auch nicht gefragt.

Sicher, die Mutter trägt für kleine Kinder die Hauptlast. Aber ist das ein Grund, diese Aufgabe zu verweigern? Häufig drängen der Vater oder die Großeltern zur Abtreibung und übernehmen keine Verantwortung. Beziehungen sind gefährdet, der Vater lässt die Mutter mit den Kindern allein, Großeltern verreisen lieber, als sich mit um die Enkel zu kümmern. Auch das sind Früchte der individualistischen Gesellschaft, die die Freiheit des Einzelnen über die Verantwortung für seine Mitmenschen stellt. Frauen haben das alleinige Selbstbestimmungsrecht über Leben oder Sterben ihres ungeborenen Kindes gefordert und sind in der Folge dazu verdammt, nicht nur diese Entscheidung, sondern oft genug auch die Sorge für das Kind allein zu tragen. Spätestens dann wünschen sich viele Mütter nicht nur eine Pflichtberatung, sondern unterstützende Beziehungen.

Deshalb muss es unser oberstes Anliegen sein, Beziehungswerte wieder in der Gesellschaft zu verankern. Denn Opfer des Individualismus sind immer die Schwächsten der Gesellschaft: im Fall von Abtreibungen die ungeborenen Kinder. Erstaunlicherweise sorgt sich der Sozialstaat ausgiebig um die Rechte vermeintlich diskriminierter Minderheiten, nur nicht um Kinder, denen das Grundrecht auf Leben verweigert wird. Sind es zu viele, um sie als Minderheit zu schützen?

Leben oder Tod eines ungeborenen Kindes darf nicht länger der einsamen Entscheidung der Mutter überlassen werden. Der Feminismus hat damit tödliche Früchte gebracht. Die Lösung ist jedoch nicht, dem Vater ein konkurrierendes Mitspracherecht einzuräumen, sondern es an seine Verantwortung und Unterstützung zu koppeln. Das biblische Beziehungsdenken pflegt nicht eine Sprache der Rechte des Einzelnen, die er gegen Andere durchsetzt. Die Konkurrenz zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter und dem Lebensrecht des Kindes entspringt dem Denken des Individualismus, der die Rechte des Individuums höher gewichtet als die Interessen der Gemeinschaft. Nur so können die Mitglieder einer Gesellschaft per Mehrheitsentscheidung wie in Irland gegen das Interesse einer Bevölkerungsgruppe entscheiden, die ihre Rechte nicht selbst einfordern kann. Und gegen das vernünftige Interesse des eigenen Landes, das bisher ein Abtreibungsverbot in seiner Verfassung und die Kinder verteidigt hat.

Das biblische Beziehungsdenken forciert keine demokratischen Mehrheitsentscheidungen, sondern geht von einer Balance gegenseitiger Verantwortung des Einzelnen und der Gemeinschaft aus. Darin bilden nicht nur Rechte mit sich daraus ergebenden Pflichten gegenüber anderen eine Einheit. Und die individuelle Freiheit findet ihre Grenze nicht erst, wo sie mit der Freiheit anderer kollidiert, sondern in der Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen.

Das biblische Beziehungsdenken verwirklicht sich im Liebesgebot Jesu (Mt 22,37-40). Liebe meint nicht eine Nacht zusammen, sondern das bedingungslose für den anderen Einstehen, ein Leben lang, durch Dick und Dünn. Wo Eltern einander und ihre Kinder lieben, bekommen sie miteinander auch die Kraft und die Hilfe, die sie in ihrer Verantwortung für ein ungeplantes Kind brauchen. Eine menschliche Politik und Gesellschaft unterstützt sie bestmöglich darin, Kindern ihren Weg ins Leben zu bahnen und nicht, sie abzutreiben. Und sie findet Not-Lösungen für alleingelassene Mütter und ihre Kinder.

Karin Heepen