Die Taliban haben die Macht in Afghanistan in rasender Geschwindigkeit an sich gerissen. Die Errungenschaften von 20 Jahren Einsatz am Hindukusch sind in Windeseile zunichte gemacht worden. Nun droht sich Geschichte zu wiederholen, sollten die Taliban erneut ihre Terrorherrschaft einrichten können, wie einst zwischen 1996 und 2001. Vielerorts wurde der Einsatz vor Ort als sinnlos, zum Scheitern verurteilt und nicht deutschen Interessen dienlich betitelt. Damit wird man dem Mandat jedoch nicht gerecht. Fakt ist: der Einsatz war niemals sinnlos und auch nicht zum Scheitern verurteilt. Überhastete politische Handlungen und Versagen haben ihn jedoch auf negative Art und Weise gebrandmarkt.

Errungenschaften des Einsatzes

Der Einsatz der NATO und damit auch der Bundeswehr und einer Vielzahl ziviler Helfer hat zweifelsohne positive Entwicklungen zutage gefördert. Ziel des Einsatzes war es, nach den Anschlägen des 11. September 2001 dafür zu sorgen, dass von afghanischem Boden keine Gefahr mehr für die NATO-Staaten ausgehen würde. Afghanistan war zuvor ein Zufluchtsort für islamistische Terrororganisationen wie Al-Qaida, welche zahlreiche Anschläge von dort aus planten. Dieses Ziel wurde erreicht. Während der gesamten 20 Jahre war Afghanistan kein „Safe Haven“ mehr für den transnationalen islamistischen Terrorismus. Und genau diese Tatsache bestätigt den ehemaligen Verteidigungsminister Peter Struck: Deutschlands Sicherheit wurde auch am Hindukusch verteidigt.

Neben dem Schutz der internationalen Gemeinschaft hat der Einsatz allerdings auch innerstaatliche Entwicklungen gefördert. Dies lässt sich aus den Grafiken des Human Development Reports der Vereinten Nationen entnehmen. Insbesondere hinsichtlich der Rechte von Frauen und Mädchen hatte Afghanistan große Fortschritte gemacht. So stieg der Index der menschlichen Entwicklung für Frauen in Afghanistan von 0,138 im Jahre 2000 bis auf 0,391 in 2019.[1] Auch im Bereich der Bildung für Frauen und Mädchen konnten große Erfolge erzielt werden. Mädchen gingen im Jahr 2000 in Afghanistan durchschnittlich 0,6 Jahre zur Schule, 2019 waren es bereits 7,7 Jahre.[2] Ein gewaltiger Anstieg und ein Zeichen für die Sicherheit von Frauen und Mädchen während der Präsenz der internationalen Truppen.

Aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht hat Afghanistan in den letzten 20 Jahren einen klar erkennbaren Aufwärtstrend verzeichnen können. Das Bruttoinlandsprodukt konnte von 35,3 auf 83,8 Mrd. US-$ angehoben werden.[3] Auch das ist eine Errungenschaft des Einsatzes vor Ort. Anhand dieser wenigen Zahlen lässt sich belegen, dass der Einsatz mitnichten sinnlos gewesen ist.

Auch die Afghan National Army konnte während des Einsatzes aufgebaut und ausgebildet werden, u.a. mithilfe zahlreicher Bundeswehrsoldaten. Die Ausbildung ausländischer Streitkräfte hatte sich bereits im Rahmen des Kampfes gegen den IS im Irak ausgezahlt, wo die Bundeswehr zahlreiche Peschmerga ausbilden konnte, welche sich im Kampf durchaus bewiesen haben. Die afghanische Armee konnte dementsprechend von einem hohen Ausbildungsstandard profitieren. Warum sie dennoch im Kampf gegen die Taliban nicht bestehen konnte, wird im weiteren Verlauf des Artikels noch thematisiert.

Ergo sind zahlreiche Erfolge des Einsatzes nicht von der Hand zu weisen. Leider konnten sich diese Errungenschaften nicht als nachhaltig erweisen. Grund dafür ist keinesfalls ein militärisches Versagen, sondern vielmehr ein politisches.

Politisches Handeln

Die politischen Ziele des Einsatzes waren ohne Frage sehr hoch. Neben der Terrorismusbekämpfung galt es auch, aktiv Nation Building zu betreiben. Diese folgt in der Regel dem Grundsatz Clear-Hold-Build. Zuerst soll dementsprechend der Terrorismus vor Ort bekämpft werden (Clear). Daraufhin folgt die Konsolidierung des Friedens (Hold) und der Wiederaufbau staatlicher Strukturen (Build). Nun hat gerade Deutschland versucht, diesen Dreiklang mit einem sehr niedrigen Kräfteeinsatz zu erreichen. Insbesondere die zweite Phase jedoch benötigt eine hohe militärische Präsenz, um eine friedliche Entwicklung langfristig absichern zu können. Dies ist in Afghanistan zu keinem Zeitpunkt geschehen. Das politische Handeln der verschiedenen Regierungen der letzten 20 Jahre widersprach dementsprechend der grundlegenden militärischen Notwendigkeit vor Ort.

Um diesen hohen Kräfteeinsatz zu umgehen, hat man sich im Rahmen des Resolute-Support-Mandats dazu entschieden, die afghanischen Streitkräfte zu befähigen, damit diese mittelfristig eigenständig die Sicherheitsverantwortung in Afghanistan tragen können. Diese Ausbildung und Befähigung war notwendige Bedingung, um die eigenen Truppen aus Afghanistan abziehen zu können. Wie sich in den letzten Tagen und Wochen herausstellte, hat es an dieser Stelle offensichtlich massive Fehleinschätzungen der NATO-Regierungen hinsichtlich des Ausbildungsstandes und insbesondere der Loyalität der afghanischen Truppen gegeben, was in letzter Konsequenz zur nahezu kampflosen Aufgabe und dem Zerfall der Armee geführt hat. Diese Fehleinschätzungen sollten sich verhängnisvoll auswirken. Es ist schwer vorstellbar, wie insbesondere die USA sich derart verschätzen konnten. Letztlich haben die Amerikaner das folgende Versagen mit ihrem überhasteten Abzug wesentlich zu verantworten. Denn mit dem Zerfall der afghanischen Armee ist neben der politischen Dimension des Konflikts auch eine Menge amerikanischer Ausrüstung von den Taliban beschlagnahmt worden, u.a. Hubschrauber vom Typ Blackhawk.

Der Fall von Kabul und damit die Machtergreifung der Taliban wurde durch das massive Fehlverhalten der Amerikaner begünstigt. Doch müssen hier ebenso die weiteren NATO-Staaten in die Kritik einbezogen werden. Denn nach der Veröffentlichung der Abzugspläne der USA war kein großer Protest von den weiteren Alliierten zu hören, obwohl man sich der Lage vor Ort und den damit verbundenen Gefahren bewusst sein musste. Die Verantwortung für die Katastrophe vor Ort haben damit die westlichen Regierungen zu einem wesentlichen Teil zu tragen.

Diplomatie

Das politische Versagen des Westens hat neben den direkten Konsequenzen für die afghanische Bevölkerung auch massive diplomatische Auswirkungen. Der Westen hat einen starken Dämpfer für seine Bemühungen im Nahen Osten erhalten. Durch die letztendliche Wiederherstellung des Status Quo von 1996-2001 und die chaotischen Verhältnisse der aktuell laufenden Evakuierung hat die NATO einen starken Vertrauensverlust zu verkraften, welcher mit einem Machtvakuum in der Region einhergeht. Andere Mächte werden nun dieses Vakuum ausfüllen. An dieser Stelle haben sich sowohl Russland als auch die Volksrepublik China diplomatisch bereits in Position gebracht. So ließ China postwendend verlautbaren, dass man die Taliban-Regierung anerkennen werde und auch Russland erklärte sich gesprächsbereit. China wird es dabei primär um weiteren Einfluss in der Region und um die in Afghanistan lagernden Bodenschätze gehen. Etwaige Menschenrechtsverstöße durch das Taliban-Regime werden von China zur Durchsetzung eigener Interessen geduldet werden.

Was der stärkere Einfluss von China in dieser Region für die dortige Menschenrechtslage bedeutet, liegt auf der Hand. So wird sich im Anschluss auch die Frage stellen, wie man nach der bereitwilligen Kooperation Chinas mit den Taliban in Zukunft mit China selbst umgehen wird, da unsere Werte von diesem Land in offensichtlichster Weise mit Füßen getreten werden.

Der Westen hat somit durch den eklatanten politischen Dilettantismus nicht nur den eigenen politischen Einfluss verspielt, sondern auch seine Stellung als moralische Instanz in der internationalen Gemeinschaft, denn man hat die Afghanen leichtsinnig einer großen Bedrohung ausgesetzt.

Eine weitere diplomatische Frage wird sich in Bezug auf den zukünftigen Umgang mit den Taliban ergeben. Der Bundesminister für Entwicklungshilfe, Gerd Müller, hat bereits angekündigt, dass es keinerlei Zahlungen von Entwicklungshilfe an die Taliban geben wird. Dies ist ein absolut notwendiger Schritt. Auch darf es keine Anerkennung der Taliban als legitime Regierung Afghanistans geben, weil sonst die Gefahr von Trittbrettfahrern massiv steigt und der gewaltsame Umsturz zum legitimen Mittel der politischen Machtübernahme wird.

Konsequenzen

Es wäre vermessen, an dieser Stelle eine Lösung präsentieren zu wollen, wo die Lage vor Ort nach wie vor sehr unübersichtlich ist. Fakt ist jedoch, dass es keine erneute Möglichkeit einer militärischen Intervention geben wird. Dafür gäbe es weder eine militärische noch eine gesellschaftliche Legitimationsbasis. Man muss den Tatsachen ins Auge sehen, dass man in dieser Situation wohl lediglich auf kleiner Ebene Schadensbegrenzung betreiben kann. Der Einfluss in der Region ist massiv geschwächt, weswegen Appelle und Forderungen des Westens vor Ort ungehört verhallen würden.

1. Schadensbegrenzung

Die Möglichkeit zur Schadensbegrenzung beschränkt sich damit auf die eigenen Staatsbürger, die in diesen Konflikt involviert waren, und jene, die dabei geholfen haben. Daher muss die Evakuierung der deutschen Staatsbürger und der afghanischen Ortskräfte zunächst oberste Priorität haben, auch wenn die Hoffnung auf eine umfassende Evakuierung der afghanischen Ortskräfte von Stunde zu Stunde sinkt.

Einmal mehr agierte die Bundesregierung just am 17.08. sehr unglücklich. Der geplante Appell für die Würdigung der Bundeswehr im Afghanistan-Einsatz wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Dabei bräuchte es diese Würdigung gerade jetzt mehr denn je. 59 Bundeswehr-Soldaten sind in Afghanistan gefallen. Sie hinterließen Angehörige und Freunde in tiefer Trauer. Das Mindeste, was von einer Regierung in dieser Lage erwartet werden kann, ist eine öffentliche Würdigung und eine Entschuldigung an alle Angehörigen und an sämtliche an Körper und Seele verwundeten Soldaten, welche vor Ort Gesundheit und Leben riskiert haben und durch politisches Versagen der Früchte ihres gefährlichen Einsatzes beraubt wurden. Die Bundesregierung muss die Leistung der Bundeswehr öffentlich und mit aller Überzeugung würdigen, denn das Scheitern ist nicht militärischer Natur.

2. Flüchtlingshilfe

Neben der Schadensbegrenzung hierzulande wird sich auch die Frage nach der Reaktion auf mögliche Flüchtlingsströme stellen. Wie bereits von verschiedenen Seiten gefordert, muss es hierbei vorwiegend um Hilfe in der Region gehen. Die Nachbarländer Afghanistans müssen bei der Bewältigung nach Kräften unterstützt werden. Dabei sollte nicht der Fehler gemacht werden, der bereits Jahre zuvor geschehen ist. Es sollten keine Pull-Faktoren dafür sorgen, dass sich Flüchtlinge auf den gefährlichen Weg nach Europa machen und dabei möglicherweise Opfer von Gewalt und zahlreicher Gefahren werden. Aufgrund der bevorstehenden Errichtung des „Islamischen Kalifats Afghanistan“ ist besonders auf den Schutz religiöser Minderheiten zu achten. So gibt es in Afghanistan eine Untergrundkirche, deren Mitglieder in großer Zahl in die Berge flüchten.[4]

3. Auslandseinsätze der Bundeswehr

Nach dem Scheitern des Afghanistan-Einsatzes stellen sich dementsprechend auch zahlreiche politische Fragen zur Zukunft von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, wie z.B. in Mali. So muss intensiv geprüft werden, ob das Konzept von Ausbildungsmissionen nach wie vor tragfähig ist. Man muss sich deutlich stärker und ungeschönt die Loyalität der lokalen Streitkräfte und auch deren Ausbildungsstand vor Augen führen und anhand dessen beurteilen, ob eine weitere Ausbildung und der hohe Einsatz tatsächlich Sinn ergeben.

Neben der konkreten Durchführung der Auslandseinsätze muss sich die Bundesregierung auch Gedanken über die angestrebte Rolle Deutschlands machen. Deutschland unterstützt in zahlreichen Einsätzen insbesondere in logistischer Form und durch Ausbildung und Beratung. Dabei fehlen meist robuste Mandate, die eine Einbeziehung der Bundeswehr in Kampfhandlungen ermöglichen. Die Sicherheitslage in der bedeutsamen Sahel-Zone entwickelt sich in eine sehr negative Richtung, erst kürzlich gerieten Bundeswehr-Soldaten in Mali ins Visier eines Selbstmordanschlags. Wenn der Terror in Krisengebieten und damit verbundene Effekte wie Fluchtursachen effektiv bekämpft werden sollen, braucht es robustere Mandate. Deutschland darf in dieser Hinsicht nicht die Verantwortung auf Dauer an die Partnernationen abtreten. Was auf den ersten Blick wie ein zu hohes Risiko aussieht, kann durchaus der militärischen Notwendigkeit entsprechen.

Das Versagen der US-Administration in Afghanistan sollte auch zu Fragen einer zunehmenden strategischen Autonomie führen. Wie abhängig die Koalition vom Handeln der Amerikaner ist, hat sich in Afghanistan eindrucksvoll gezeigt. Will man derlei Fehlschläge in Zukunft vermeiden, kann es durchaus lohnend sein, sich mit einer zunehmenden strategischen Autonomie Deutschlands und Europas zu beschäftigen. Was in dieser Hinsicht auch zur Wahrheit gehört, ist, dass dafür große Investitionen notwendig wären.

4. Konsequenzen für die Regierung

Es mag unangenehm erscheinen, in einer solchen Lage über Personal zu sprechen, doch hat uns dieses Dilemma aufgezeigt, dass es dringend Änderungen in der Art und Weise der Besetzung der Ämter braucht. Wir sollten uns hierzulande die Frage stellen, ob die höchsten Ministerialämter nicht doch eine gewisse berufliche Qualifikation erfordern. Insbesondere die sensiblen Ministerien des Äußeren sowie das Verteidigungsministerium treffen Entschlüsse, welche im Zweifel über die weltpolitische Stellung Deutschlands oder auch über Leib und Leben deutscher Einsatzkräfte entscheiden. Die Frage muss an dieser Stelle erlaubt sein, ob diese Ämter nicht diplomatische bzw. militärische Erfahrungen zur zwingenden Voraussetzung bei der Besetzung machen. Nur dann kann gewährleistet werden, dass die Berichte von Beratern auch effektiv und auf Basis eigener Erfahrungen eingeordnet werden können. Dadurch sinkt die Gefahr einer weiteren verheerenden politischen Niederlage wie jener in Afghanistan.

18.08.2021

Autor: Alexander Berghaus

Alexander Berghaus ist aktiver Soldat bei der Bundeswehr und als Fähnrich aktuell im Studium der Staats- und Sozialwissenschaften an der Universität der Bundeswehr München. Er hat für Bündnis C diese erste Einschätzung der Ergebnisse des Bundeswehreinsatzes und zur Lage in Afghanistan verfasst. Zu Bundeswehreinsätzen generell läuft in Bündnis C eine parteiinterne Diskussion.


[1] http://www.hdr.undp.org/en/indicators/136906

[2] http://www.hdr.undp.org/en/indicators/123306

[3] http://www.hdr.undp.org/en/indicators/194506

[4] https://www.faimission.org/wire/afghanistan-official-statement-underground-church