In Bündnis C wollen wir daran mitwirken, die Berufung unserer Nation hervorzubringen. Gott schreibt Geschichte mit Nationen. Und Deutschland hat eine Berufung für Europa und darüber hinaus, den Ländern zum Frieden zu dienen und zur Hilfe, Einheit und Vertrauen zu stiften, ohne andere Nationen zu dominieren. Deutschland genießt hohes Ansehen in der Welt. Aber auch unser Land wird von Krisen erschüttert. Es gibt eine zunehmende Ballung von Problemen und Gefahren in ganz Europa, die die Bevölkerung spürt. Ein einfach weiter so verbietet sich, das hat nun auch die Bundestagswahl gezeigt.
Die offensichtlich nicht gelösten Probleme werden jetzt auch in Bundestagsdebatten Platz finden. Das sind vordergründig die Migrationspolitik und die antidemokratischen Tendenzen ideologischer Einseitigkeit. Das sind sicher auch die Renten und der Pflegenotstand, Leiharbeit und Handelsverträge. Die letzten Probleme sind keineswegs neu, aber es verfestigt sich der Eindruck, dass wenn überhaupt, immer nur an den Symptomen laboriert wird, jedoch niemand die eigentlichen Ursachen sehen und beheben will.
Die krisenhafte Entwicklung in Europa beruht vor allem auf einigen grundlegenden Fehlern im System, die in diesem Beitrag aufgezeigt werden. Ohne ein substantielles Umdenken in diesen Bereichen wird die Behebung der Fehlentwicklungen nicht gelingen.
1. Krisenhafte Fehlentwicklungen
Zerstörung der Familie
Vor allem anderen muss die gezielte Zerstörung der Familie genannt werden, mit der die westliche Welt ihren Erfolg und Wohlstand gefährdet. Mit ihrem einseitigen Fokus auf ein Wirtschaftswachstum um jeden Preis wurde die nachhaltige Sicherung des wirtschaftlichen Standards und Wohlstands durch die nächste Generation vernachlässigt. Die Leistungsträger der Gesellschaft haben nicht nur zu wenige Kinder geboren, sondern diese mit defizitären Bindungserfahrungen erzogen. Die in der Familie generierte Bindungsfähigkeit bildet jedoch die Grundlage für Bildungs- und Leistungsfähigkeit der nächsten Generation. Zu frühe Fremd- und Kollektivbetreuung, der Fokus auf Bildung statt Bindung, Ehescheidungen und Kindesmissbrauch fordern hier ihren Tribut in Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die zum Teil nicht oder nur bedingt ausbildungs- oder studierfähig sind und deren Leistungsfähigkeit von psychischen Defiziten und Störungen beeinträchtigt wird. Die beschädigte Bindungs- und Beziehungsfähigkeit setzt sich zudem in eigenen Partnerschaften fort und gefährdet Ehen und Familien in existentiellem Ausmaß.
Die westlichen Gesellschaften ernten hier die Früchte eines einseitigen Individualismus, der Selbstverwirklichung, Erfolg und Effizienz des Einzelnen auf Kosten des Gemeinwohls und zukünftiger Generationen überzogen hat.
Delegierung der Sozialverantwortung an den Staat
Mit der Zerstörung der Familie hat der Staat sukzessive ein zentralistisches, anonymes Sozialsystem errichtet, das den Einzelnen zunehmend aus seiner Eigenverantwortung und die Familie aus ihrer ureigensten sozialen Verantwortung entlassen hat. Die Erziehung der Kinder, Versorgung der Alten und Hilfe für in Notlagen geratene Angehörige sind die natürlichen Pflichten von Familiensystemen. Diese wurden nahezu komplett in staatliche Hand gegeben und in kollektiven Sozialsystemen zentralisiert.
Mit den anonymen staatlichen Verteilungsmechanismen dieser Systeme wurde die Eigenverantwortung des Einzelnen zunehmend durch ein Anspruchsdenken verdrängt, in dem der Einzelne genau weiß, was ihm gesetzlich zusteht. Er fragt jedoch nicht, wer für die ihm gewährten Leistungen bezahlt und wie die Mittel dafür erarbeitet werden. „Vater Staat“ hat die Versorgerrolle der Familie übernommen, innerhalb derer aufgrund der bestehenden Beziehungen untereinander ein solches Anspruchsdenken nicht möglich ist, weil der Einzelne in der moralischen Pflicht zur Gegenseitigkeit steht. Diese Verantwortung für das Gemeinwohl wurde mit der Übernahme der Sozialverantwortung durch den Staat nahezu eliminiert.
Gleichzeitig wird der Einzelne jedoch zum Objekt eines Machtsystems, das über die Befriedigung seiner Bedürfnisse entscheidet und nie der individuellen Situation jedes einzelnen Falles gerecht werden kann wie das Beziehungsnetz einer Familie. Die Kollektivierung der Sozialverantwortung hat auf diese Weise vielfältige Ungerechtigkeit erzeugt und damit einen andauernden Ruf nach sozialer Gerechtigkeit generiert, den das System niemals erfüllen kann.
Die auf diese Weise überfrachteten Sozialsysteme sind am Zusammenbrechen. Altersarmut, Pflegenotstand und eine Bildungsmisere, die unsere Wirtschaft grundständig gefährdet, sind nur einige Bespiele für die Folgen, die die Abschaffung der Sozialverantwortung von Familiensystemen für die Gesellschaft insgesamt nach sich zieht.
Schuldenfinanzierung
Ein auf Schuldenfinanzierung basierendes Wirtschafts- und Finanzsystem überlässt zudem den nächsten Generationen eine Schuldenlast, die von ihnen nicht mehr zu bewältigen ist. Eine Schuldenbremse für Staatshaushalte wird unter den gegebenen Umständen weiter steigender Sozialausgaben nur so lange aufrecht zu erhalten sein, wie die Wirtschaft boomt und genügend Steuereinnahmen fließen. Auf kommunaler Ebene stemmen bereits jetzt strukturschwache Regionen ihre Pflichtausgaben (u. a. Arbeitslosengeld, Hartz IV, Kitas, Schulen) teilweise nicht mehr ohne neue Kredite.
Eine auf Schulden aufgebaute Gesellschaft tendiert zu Anonymität und sozialer Entfremdung und ist inflationsgefährdet, verbunden mit zufälliger und ungerechter Umverteilung des Wohlstandes. Dazu aus unseren Grundsätzen Pkt. 2.4.2.:
„Zum Beispiel wurde im Rahmen der Banken- und Staatsverschuldungskrise der Staat missbraucht, um unverantwortliches Verhalten von Finanzinstitutionen und anderen Staaten zu Lasten der breiten Bevölkerung und künftiger Generationen hierzulande auszugleichen. Durch politisch instrumentalisierte Zentralbanken wurde die Geldmenge erhöht, was prinzipiell zu der Gefahr erhöhter Inflation führen kann, durch große Teile der Bevölkerung teilenteignet werden. Politisch unabhängige Volkswirte haben solche Entwicklungen zu Recht als „Sozialismus zugunsten des Großkapitals“ bezeichnet. Denn die Nutznießer dieses fragwürdigen und oft gesetzwidrigen Engagements des Staates sind nicht zuletzt die Akteure der Finanzwirtschaft. Ein solches Handeln ist nach biblischen Maßstäben inakzeptabel.
Faktoren, die zu einer Konzentration wirtschaftlicher und finanzieller Macht führen, sind die genannte staatliche Intervention zugunsten der großen Finanzinstitute oder misswirtschaftender Staaten und der politische Missbrauch der Zentralbanken. Ebenfalls zu nennen sind der Verzinsungseffekt bezüglich Schulden und Guthaben, der eine Umverteilung von „unten nach oben“ bewirkt, aber auch zum Beispiel falsche Instrumente der Vermögensbildung und Altersabsicherung für die breite Bevölkerung, die letztlich ebenfalls der Finanzwirtschaft und indirekt dem Staat zugutekommen.“[1]
2. Grundlegende moralische Schwächen des Kapitalismus und biblische Vergleichspunkte
Dem Wirtschaftssystem des Kapitalismus wurde aufgrund seines freiheitlichen, zur Eigenverantwortung und Kreativität inspirierenden Ansatzes und seiner Überlegenheit gegenüber sozialistischen Planwirtschaften häufig eine biblische Fundierung zugesprochen, insbesondere der Form der sozialen Marktwirtschaft. Dabei wurden jedoch grundlegende, der biblischen Beziehungsorientierung widerstrebende Schwächen des Systems übersehen. Michael Schluter, Vordenker des Jubilee Centre Cambridge, hat diese Schwächen in der nebenstehenden Übersicht umrissen: [2]
- Der Kapitalismus verfolgt eine ausschließlich materialistische Vision von Produktion und Kapitalgewinn.
- Investoren erlangen Belohnung/ Rendite ohne Verantwortung und Beziehung zum Unternehmen.
- Die begrenzte Haftung von Gesellschaftern geht bei Insolvenz zu Lasten der Beteiligten (Beschäftigte, Kunden, Lieferanten, Dienstleister).
- Die Bevölkerung muss den Orten folgen, wo Arbeit und Kapital sich konzentrieren und wird dadurch von ihrem Familienbesitz entwurzelt.
- Das Individuum ist vor den Forderungen und Versuchungen des freien Marktes unzureichend geschützt.
Es ist richtig, dass biblische Hinweise zur Wirtschaft freie Märkte für den Austausch von Waren und Dienstleistungen befürworten ohne sozialistische Zwangsstrukturen. Sie beschränken aber den Markt für den Austausch von Kapital, Land und Arbeitskraft. Land gilt als Leihgabe Gottes, die immer wieder an Gott zurückfällt und von ihm neu zugeteilt wird. Das Sabbatjahr dient zur Speisung der Armen (3Mose 25,4f), das Jubeljahr der Rückgabe von Landbesitz und der Freilassung von Sklaven (3Mose 25,10+39ff; 5Mose 15,1-6; Neh 5).
Eine an der Bibel orientierte Wirtschaftsethik geht vom Liebesgebot Jesu (Mt 22,37-40) und der notwendigen Ergänzung der Beteiligten aus. Anvertrautes Eigentum fordert Verantwortung (Lk 19,12ff). Gewinn muss auf gerechtem Weg erwirtschaftet werden (Jer 6,13; 8,10). Die biblische Lehre warnt wiederholt vor den Gefahren der Verschuldung von einzelnen Personen, Familien und der Gesellschaft (Spr 22,7; Röm 13,8).
Die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus resultiert im Wesentlichen aus den grundlegenden, den biblischen Leitlinien zuwiderlaufenden Prinzipien des Systems. Die staatlichen Regulierungsmaßnahmen der sozialen Marktwirtschaft haben die Auswirkungen dieser Verwerfungen immer weniger begrenzen können. Der Ruf nach immer mehr Staat hat zu einer scheinsozialen Staatswirtschaft geführt, die einem neuen Sozialismus gefährlich nahe ist. Die Regulierungsmaßnahmen des Staates haben die zunehmende Konzentration wirtschaftlicher Macht nicht verhindert, aber den Mittelstand immer mehr belastet und abgewürgt, der in entscheidendem Maße die Wertschöpfung der Gesellschaft erbringt.
Zusammenfassend besteht der Hauptkonflikt in der zwischen konservativem (rechtem) und sozialistischem (linkem) Denken polarisierten Gesellschaft bereits viel länger als seit der Flüchtlingsdebatte. Die massenhafte Einwanderung in die bereits überlasteten Sozialsysteme hat zusammen mit den kulturellen und religiösen Divergenzen den Konflikt nur verschärft. Die grundlegenden Schwächen des kapitalistischen Wirtschaftssystems zusammen mit der Individualisierung der Familie und der gesamten Gesellschaft münden in einer Sackgasse der gesellschaftlichen Entwicklung der westlichen Welt, die in der Umkehr zu einem Wirtschafts- und Sozialmodell nach biblischen Leitlinien und Ordnungen ihren Ausweg finden kann.
3. Ein beziehungsorientiertes Wirtschaftsmodell
Das Jubilee Centre in Cambridge hat unter der Leitung von Michael Schluter vor 20 Jahren begonnen, über ein Wirtschaftssystem nachzudenken, das jenseits von Kapitalismus, Marxismus und Sozialismus vor allem die Beziehungen würdigt und entwickelt, die das menschliche Zusammenleben konstituieren. Die Forschergruppe hat die Grundwerte des Kapitalismus mit denen der Bibel verglichen. Und sie fanden, dass nicht die Vermehrung von Geld und materiellen Werten eine biblische Prämisse ist, sondern gute Beziehungen des Menschen, zuerst zu Gott, und dann zum nächsten Mitmenschen.
Sie entwickelten den Denkansatz des Relationismus daraus, eine beziehungsorientierte Konzeption für die Wirtschaft und die Politik, in der nicht vorrangig Kapital und Konsum Ziel und Zweck sind, sondern dass Menschen miteinander, füreinander und für das Gemeinwohl leben und arbeiten. Identität, Bedeutung, Sicherheit und Wert werden in den Beziehungen der Person verortet, statt nur den Einzelnen als Arbeitskraft, Person oder Humankapital zu sehen, der dem System dient. Der Relationismus definiert damit normative Werte für das soziale Leben und für Beziehungen zum größtmöglichem Nutzen für die Person und das Gemeinwohl.
Ausgehend von der alttestamentlichen Gesetzgebung wurde im Paradigma des Relationismus ein integriertes Wirtschafts- und Sozialmodell für unsere Zeit entwickelt, in deren Zentrum das Liebesgebot Jesu steht (Mt 22,37-40) und das für die Beziehungsgestaltung der Beteiligten die Richtschnur vorgibt.
Wir werden in der westlichen Gesellschaft Lösungen brauchen, die eine Balance schaffen von guten Beziehungen und einer Wirtschaftsform, die den Menschen nicht weiter zum Material macht. Und wir brauchen eine Balance zwischen den Rechten des Einzelnen und dem Gemeinwohl. Die Individualisierung des Rechts auf Kosten der Gemeinschaft ist kein Gebot christlicher Nächstenliebe, sondern verkehrt sie in ein Plagiat. Jesus hat nicht gesagt „Du sollst von deinen Nächsten geliebt und versorgt werden.“, sondern: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mk 12,31).
Die folgenden Schritte zur Reformierung des bestehenden Systems werden an anderer Stelle demnächst näher ausgeführt werden:[3]
- Beziehungswerte neu in der Gesellschaft verankern: Beziehungsorientierung statt Individualismus
- Private Haushaltsbilanzen stärken: Mehr Privateigentum und Minderung der Schulden
- Familienverbände stärken: Bildung von Familiengenossenschaften
- Lokale Kapitalgeber fördern: Keine Belohnung ohne Verantwortung
- Öffentliche Sozialleistungen in die Verantwortung der Kommunen geben: Übertragung der Verantwortung für Sozialausgaben von den Zentralregierungen auf die kommunale Ebene.
Aus einer anfänglichen Vision sind mittlerweile Plattformen und Institute entstanden, die das Modell aufgegriffen haben. Unter dem Begriff des Relational Thinking werden biblisch fundierte Konzeptionen für Wirtschaft, Politik, Sozialverantwortung, Kommunalwesen, Bildung usw. erarbeitet und initiativ über die European Christian Political Movement (ECPM), deren Forschungsstiftung Sallux und das Schuman Center in Brüssel verbreitet.
4. Unser Auftrag
Christlich fundierte Politik ist damit deutlich mehr als konservativ. Man kann nicht einfach erhalten, was schon nahezu zerstört ist, weder die Familie, noch die nächste Generation, noch ein Wirtschafts- oder Sozialsystem, das am Kollabieren ist. Wenn etwas zerstört wurde, muss es neu aufgebaut werden, und das mit anderen Strategien als den bisherigen, die zum Kollaps geführt haben.
Deutschland hatte als Land der Dichter und Denker schon immer die Berufung, innovatives Denken mit hervorzubringen. Wir arbeiten in der ECPM mit der Forschergruppe in Cambridge zusammen und profitieren davon. Wenn wir über die bisher versuchten Reparaturen des Systems hinaus nachhaltige Antworten auf die krisenhafte Entwicklung der Wirtschafts-, Finanz-, Sozialsysteme und Europas entwickeln, werden sie gehört werden. Und wenn diese Antworten biblisch fundiert und inspiriert sind, kann Reich Gottes in der Politik unseres Landes sichtbar werden und in den Beziehungen der Gesellschaft Gestalt annehmen.
Karin Heepen
Literatur:
[1] Grundsätze und Eckpunkte zum Grundsatzprogramm. Bündnis C – Christen für Deutschland. Stand: 22.10.2016, online unter https://www.buendnis-c.de/images/informieren/pdf/dokumentation/Buendnis-C-Grundsaetze-und-Eckpunkte.pdf .
[2] Vgl. Michael Schluter, Is Capitalism morally bankrupt? Five moral flaws and their social consequences, Cambride Papers, vol. 18, 3/2009 (Cambridge: Jubilee Centre, 2009), online unter http://www.jubilee-centre.org/is-capitalism-morally-bankrupt-five-moral-flaws-and-their-social-consequences-by-michael-schluter / (10/2017).
[3] Vgl. Paul Mills und Michael Schluter, After Capitalism: Rethinking Economic Relationships (Cambridge: Jubilee Centre, 2012), S. 105ff.
Erklärung des European Economic Summit 2015, online unter http://economicsummit.eu/erklarung-des-europaischen-okonomischen-gipfeltreffens-2015-german/ (10/2017).
Jeff Fountain, Als das neue Europa begann. Robert Schuman Visionär einer Zeitenwende (Solingen: Verlag Gottfried Bernhard, 2015).